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Berlin - Symphonie einer Großstadt (II): Volksmassen. Nähe.

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Zweite Sequenz aus der Performance vom Kirchentag 2017 in der Parochialkirche. Hier gibt es mehr dazu, auch den Link zum Video. Der Text bezieht sich auf den zweiten Akt von Ruttmanns Berlin - Sinfonie der Großstadt.


Im gleichförmigen Strom der Menschenmassen irgendwann zur Rush Hour stelle ich fest: Bei Fischen erhöhen sich im Schwarm Schnelligkeit und Reaktionsvermögen. Bei Menschen nicht unbedingt. Der Fluss aus Mensch stockt wie das WLAN bei mir im Hotel stolpert nimmt Umwege, teilt sich rund um einen jungen Mann, der schlecht rasiert, mit Schweißflecken unter den Armen und überaus missmutigem Gesichtsausdruck im Weg steht und ein Schild hochhält wie eine Drohung: „Free Hugs!“ Und jeder stolpert, springt, zuckt zur Seite, und der Strom von Körpern aus 50% Wasser und ein bisschen Mikroplastik spuckt mich vor einer Kirche aus. 

Ich gehe hinein und finde mich in einer Umarmung aus sakraler Kühle und stillem Ernst. Die Umarmung bleibt reserviert, es ist eine evangelische Kirche, und evangelische Kirchen haben eine bestimmte Art, einen zu umarmen. Ganz anders als so eine alte polnisch-katholische Kapelle, die mich ohne Rücksicht auf irgendwas in einen weichbusig kohlduftigen Arm zieht, in die Wange kneift und fragt, wo ich so lang gewesen bin. Ganz anders als so ein freikirchliches Gemeindezentrum, das mich in den Arm nimmt und abknutscht und festhält mit Haut und Haaren, dass ich schon sagen möchte: Das ist mir zu nah, aber dann habe ich auch schon einen Schrubber oder einen Kollektenbeutel oder einen Aktenordner in der Hand und irgendeinen Dienst übernommen. 
Eine evangelische Kirche tut so, als ob sie mich in den Arm nimmt, aber sie tut es doch nicht, sie fasst mich mit den Händen bei den Oberarmen und hält mich dabei auf gehörigem Abstand und lächelt mich an und wünscht mir eine „gute Zeit“, drückt nochmal was fester fürs Herz, weil sie mich nicht überwältigen, mir nicht die Luft abschnüren, mir Raum lassen will und das ist ja auch ganz okay so, aber ich spüre weder ihren Herzschlag, noch höre ich ihren Atem. 

Nach den Menschenmassen draußen ist mir das ganz recht und ich setze mich in die sachlich-kühle Heiligkeit, die bald jäh unterbrochen wird von der Stimme eines moppeligen Jungen irgendwo aus Süddeutschland, offensichtlich katholisch sozialisiert, der mit schnodderigem Zeigefinger nach vorne-oben zeigt und quakt: „ Mama, ‘s Greuz is leer, deä Jesus is wech!“ Und seine an interkonfessionell-religiöser Bildung momentan oder grundsätzlich weniger interessierte Mutter sagt etwas theologisch ganz Wertvolles, sie antwortet: „Na, er wird wohl nach drause gegange sein.“ Und ich gehe hin und tue desgleichen und stürze mich in die Menschenmassen vor der Tür und will ihn suchen und finden, damit wir auf einer Parkbank sitzen und philosophieren oder in einem dieser Berliner Hipster-Cafés eine Guave-Liebstöckl-Bionade trinken und dabei die Welt retten können. 

Aber ich habe das Gefühl, ich ertrinke beim Bad in der Menge, dass der Strom mich mitreißt, wohin auch immer. Und ich wäre gern Mose, der das Meer teilt – vielleicht sollte ich mir so ein Free-Hugs-Schild anschaffen – oder Jesus, der übers Wasser läuft, über den Dingen schwebt, aber ich bin eher der sinkende Petrus und gehe unter und werde mitgerissen an Parkbänken vorbei und an Hipster-Cafés und der Menschenfluss zieht mich immer weiter Richtung Stadtmitte und Kirchentag, und der Fluss wird orange und vor mir sehe ich, wie er sich teilt, weil da vorne, 100 Meter vor mir, dieser Typ mit dem Schild „Free Hugs“ steht, immer noch unrasiert, immer noch in demselben T-Shirt wie schon vorgestern, und ich versuche, nach rechts zu schwimmen, nach links, während wir unaufhörlich die Straße hinunterstürzen, und es sind keine 20 Meter mehr, und ich treibe geradewegs auf ihn zu, noch zehn Meter, noch fünf...

Und plötzlich scheint alles still zu stehen und einzufrieren und sich in Zeitlupe zu bewegen, und der Lärm der Stadt wird tiefer und leiser und die Polizeisirenen klingen wie Walgesänge, und ein Lichtstrahl fällt vom wolkenverhangenen Himmel genau auf den Typen mit dem Free-Hugs-Schild und eine überirdische Stimme perlt durch die Luft: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, und für eine Sekunde bleibt alles stehen und die Welt wird hell und klar.

Und dann stürzt der Lärm der Stadt wieder auf mich ein, und ich werde nach vorn getrieben und will gar nicht mehr ausweichen, sondern kenne meinen Weg und reiße die Arme auseinander und rufe dem Typ mit dem Schild zu: „Hier bin ich!“, denn ich habe ihn erkannt, und falle ihm um den Hals und spüre, wie sein Herz stockt und rieche seinen Atem und weiß, dass er vorhin Döner gegessen hat, und die Duftruinen seines Deos, das schon lange versagt hat und spüre seine Bartstoppeln am Hals und das schweißnasse Hemd unter meinen Händen und dann reißt er sich los und glotzt mich an und bellt: „Soch mal, host du’n Knoll?!“ Aber mir ist das egal.

Symphonie der Großstadt (IV): Tempo

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Zweite Sequenz aus der Performance vom Kirchentag 2017 in der Parochialkirche. Hier gibt es mehr dazu, auch den Link zum Video. Der Text bezieht sich auf den vierten Akt von Ruttmanns Berlin - Sinfonie der Großstadt.

 

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde
und als aus Abend und Morgen der erste Tag wurde,
schuf er, quasi im Vorbeigehen,
ohne hinzusehen,
auch gleich die Zeit

- und er schuf leider viel zu wenig davon.
Und die Terminkalender wurden wüst und voll.
"Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes",
aber zum Glück weiß niemand,
wer die wohin gelegt hat. 
Wann sollten wir das denn noch schaffen?! 

PC ausmachen 
Schreibtisch abschließen 
Jacke im Gehen anziehen 
Feierabend!
Schnell jetzt…  nochmal zurück, 
die Autoschlüssel liegen noch in der Schublade 
PULS!
Wer rastet, der rostet 
sowieso 
aber jetzt musst du dich beeilen 
Du hast noch einen Termin 
Die Treppe runter 
in die Tiefgarage 
rein ins Auto, 
Schlüssel rein 
der Sicherheitsgurt 
kann bis zur nächsten roten Ampel warten 
Ab zur Schranke 
fummelst nach der Karte 
die Schranke hebt sich quälend langsam 
Du lässt den Motor aufheulen 
schießt die Rampe hoch 
auf der Straße eine Lawine aus Blech 
PULS!
Du trommelst auf dem Lenkrad herum 
dein Puls spielt Housemusik 
140 Beats per Minute 
Irgendwann im Mittelalter
waren es mal 70

aber 140 ist immerhin
nur ein Drittel von dem,
was das Herz einer Spitzmaus als Spitzenleistung leistet 
und man sagt doch immer, 
dass beim Atomkrieg das Kleinzeug überlebt 
- da geht noch was! 

Schickst per Telefon den Sohn zum ALDI 
wo die Kassiererin 930 Produkte pro Schicht über den Scanner zieht 
rufst kurz bei Vatter im Heim
schaffst es heute leider wieder nicht
Er ist schon bettfertig gemacht
viereinhalb Minuten dauerte das heute wegen Krankenstand 
Ein Krankenwagen blockiert die rechte Spur.
Du ziehst rüber,
preschst bei Kirschgelb über die Kreuzung 
vor dir schon wieder rote Bremslichter 
PULS! 
du trommelst auf dem Lenkrad 
PULS! 
die Uhr rast 
Du stehst schon wieder 
PULS! 
biegst endlich in die Straße ein 
fährst um den Block erst ein-, dann zweimal 
alles voll 
PULS! 
Das Auto piept 
Sicherheitsgurt braucht man jetzt auch nicht mehr 
stellst dich mit quietschenden Reifen in die zweite Reihe 
das Ordnungsamt wird doch schon Feierabend haben 
Du hast noch einen Termin 
raus aus dem Auto um die Ecke 
durch die schwere gläserne Eingangstür 
suchst auf der Hinweistafel nach dem richtigen Raum 
findest ihn nicht 
PULS! 
findest ihn doch, 
da… ganz oben… 
tausende von Treppen 
PULS! 
mit klopfendem Herzen bleibst du vor der Türe stehen 
fährst dir durch die Haare 
hoffst, dass dein Kopf nicht so rot ist, wie er sich anfühlt 
PULS! 
Öffnest die Tür 
alle Blicke auf dich
deine Stimme hoch und atemlos...

„Entschuldigung...
Ist das hier der Kurs Entschleunigung im Alltag?“
„Ja“, sagt die Kursleiterin in wallenden Kleidern
und nickt auf einen leeren Stuhl.

„Jetzt aber schnell“, scherzt sie. 
Vereinzelte Lacher. 
Hahaha.
PULS! 
Und dir fällt jetzt erst auf,
dass Entschleunigung

fast so klingt wie Entschuldigung
Und Oma hat immer gesagt:
Man kann sich selbst nicht entschuldigen,
nur um Entschuldigung bitten.


Vielleicht ist das mit Entschleunigung genauso.

Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volk Gottes.

Zukunftsgraffitti - Predigt über Jes 29,17-24

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Nach urlaubs- und vor allem doktorarbeitsbedingter Pause endlich wieder ein bisschen Text. Die Predigt war für die Kanzel etwas gekürzt, hier gibt es die Langversion.

Es geht in die Vergangenheit, ein paar tausend Jahre zurück nach Jerusalem. Auf dem Marktplatz herrscht emsige Betriebsamkeit. Der neue Tempel erstrahlt in nie zuvor gesehenem Glanz, die Stadt ist wieder aufgebaut, unter viel Schweiß und Tränen. Aber die Erinnerung an das Exil wenige Generationen zuvor sitzt tief. Mit den Persern hat man sich irgendwie arrangiert, aber aus der eigenen Geschichte weiß jedes Kind, dass jeder Zeit ein neues Reich aus den Trümmern auferstehen und das kleine Volk Israel mühelos wie die Katze die Maus fangen kann. Noch schreckt man bei jedem lauten Geräusch auf, aber die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein. Und so gehen sie ihrer Arbeit nach, die Handwerker bringen ihre Waren zum Markt, ein paar Gelehrte sind in tiefsinnigen Diskussionen versunken und einige Kinder spielen im Sand. Am Rand stehen die Bettler, die Blinden und Lahmen. 



Plötzlich betritt ein Mann die Szene. Ein paar Kinder fangen an zu kichern, ein paar Erwachsene blicken betreten zu Boden, ein paar Jugendliche feixen und sind gespannt, welche Show ihnen der Mann heute bieten wird. Er ist ein Prophet. In der Sprache der meisten Leute ist das ein nur wenig netteres Wort für „Störenfried" oder schlichtweg „Spinner". Den Propheten interessiert das wenig. Er stellt sich in die Mitte des Platzes - und beginnt zu malen. In großen Gesten schwingt er den Pinsel, und bald werden Einzelheiten erkennbar. An einer Stelle entsteht eine Landschaft: Ein zerklüftetes Hochbebirge, von gelbbraunen Steppen gesäumt, zwischen den schneebedeckten Gipfeln hindurch sieht man das Mittelmeer. „Das ist der Libanon", ruft einer aus der Menge, die Umstehenden nicken anerkennend. Das Nachbarland im Norden ist gut erkennbar, gerade zeichnet der Maler mit einem feinen Haarpinsel ein paar Risse in den staubtrockenen Boden. Er tritt einen Schritt zurück, betrachtet sein Werk, nickt, dann taucht er plötzlich den Pinsel in sattes Grün und macht sich noch einmal an der Landschaft zu schaffen. Ein paar schnelle Bewegungen, ein paar Tupfer hier, ein paar Striche da - ein Raunen geht durch die Menge, als der Maler den Blick auf sein Bild wieder freigibt. Der staubige Wüstenboden, die verschneiten Berggipfel - alles ist über und über mit leuchtend grünen Bäumen bedeckt. „Aber im Libanon wachsen doch gar keine Bäume", ruft ein Kind, die Menge raunt zustimmend. Einige schnauben verächtlich, machen eine wegwerfende Handbewegung und gehen wieder an die Arbeit. 

Den Maler interessiert das alles nicht, er schwingt den Pinsel weiter. Immer bunter wird das Bild, immer wilder und detailreicher: Ein dunkelgrüner Wald, dessen Wipfel im Wind zu flüstern scheinen, wo heute noch große graue Steine im brennenden Sonnenlicht schweigen. „Was soll das, das ist doch gar nicht echt", ruft ein Mann. „Wir haben wichtigeres zu tun, als uns irgendwelche Fantasiebilder anzugucken", ruft ein zweiter. „Meine Kinder glauben jetzt, der Libanon wäre ein riesiger Baumgarten, was soll das, denen solche Flausen in den Kopf zu setzen?!" schimpft eine Mutter und zieht ihre quengelnden Kinder mit sich. Immer mehr Leute wenden sich ab, nehmen ihre Werkzeuge wieder in die Hand und machen sich kopfschüttelnd wieder an die Arbeit. Die macht sich schließlich nicht von selbst, und bevor man sich Sorgen um irgendwelche Bepflanzungen im Libanon macht, hat man vor der eigenen Haustür noch genug zu tun. 

Die Übriggebliebenen rücken etwas näher, langsam werden Details sichtbar. Eine Szene am rechten Bildrand: Da sitzen Menschen im Tempel um einen Mann herum, der aus einer Buchrolle vorliest. Wenn man ganz nah herangeht, kann man sogar die Schrift auf der Buchrolle entziffern: Ich bin der Herr, Dein Gott, der Dich aus der Knechtschaft in Ägyptenland befreit hat... Der Anfang der Geschichte ihres Volkes. Ein paar aus der Menge seufzen, als sie leise die alten Worte vor sich hin sprechen. Eine schöne, eine aufregende, eine feierliche Geschichte. Auf dem Bild scheinen die Figuren an den Lippen des Vorlesers zu hängen. Mit großen Augen und gespitzten Ohren sitzen sie nach vorn gebeugt... Plötzlich geht ein empörter Aufschrei durch die Menge der Bildbetrachter. Eine junge Frau zeigt aufgeregt auf das Bild. „Den kenne ich", ruft sie. „Es ist der alte Jizchak, der Blinde, der immer am Stadtrand sitzt!" Diejenigen, die nahe genug dran sind, kneifen die Augen zusammen - und in der Tat, Einer der Menschen auf dem Bild trägt unverkennbar die Gesichtszüge des stadtbekannten Blinden - nur seine Augen sind offen und klar. „Hier sind noch mehr", ruft die Frau anklagend, und tatsächlich, in der Gruppe der Lesenden und Hörenden erkennen sie noch andere Blinde und Taube aus ihrer Stadt. Immer wieder werden Namen gerufen, doch diese gehen im wütenden Gemurmel der Volksmenge unter. „Was für ein Unsinn", ereifert sich ein reicher Handwerker. „Da lesen und hören Leute, die blind und taub sind. Das können die gar nicht, und in unserer Stadt geht es ihnen doch gut damit!“ „Und überhaupt - anstandslos ist das", schimpft eine ältere Schneiderin, „diese armen Leute mit ihrem Leiden in die Öffentlichkeit zu stellen!" Die Umstehenden nicken. Einer der Gelehrten der Stadt, ein Schreiber, schüttelt sorgenvoll den Kopf. „Das stimmt auch sachlich nicht", bemerkt er, „Taube und Blinde und Lahme dürfen nach dem Gesetz gar nicht in den Tempel." Plötzlich fasst ihn einer am Arm. „Hey, guck mal, Du sitzt auch mit den Tauben und Blinden da im Kreis!" Ungläubig geht der Gelehrte näher an das Bild- und tatsächlich, er erkennt seine eigenen Gesichtszüge auf dem Bild. „Frechheit", faucht er, steckt die Hände in die Taschen und eilt davon. 

„Liebe Leute", sagt ein anderer Gelehrter versöhnlich, „lasst den armen Maler doch in Ruhe. Es ist doch ein schönes Bild, und gerade die kleinen Leute, unsere armen und kranken Brüder und Schwestern, brauchen solche Bilder vom Himmel, in denen es ihnen besser geht." Er zeigt auf eine Stelle des Bildes, auf der die Armen der Stadt jubeln und ihre Hände zum Himmel erheben. Die Menge nickt zustimmend. Ein junger Mann legt die Stirn in Falten, schließlich fragt er: „Aber wenn das der Himmel sein soll - warum sind denn da keine Wolken auf dem Bild? Und keine Engel? Das sieht doch alles nach der Erde aus. Nur halt - anders als es jetzt ist."„Revolution", krächzt ein alter Bettler und schwingt seinen Stock. „Da haben wir's", ruft ein Großgrundbesitzer, „das bringt die Leute nur auf dumme Ideen. Wir haben gerade alles hier wieder aufgebaut, wir haben endlich wieder so etwas wie einen Alltag. Wir wollen Ruhe und Frieden!" Einige Leute klatschen. „Ich habe Besseres zu tun als mir solche Fantasien anzugucken", erklärt er und verlässt den Platz. Viele folgen ihm. „Hey, Du bist auch drauf", ruft ihm ein kleiner Junge hinterher. Die Wenigen, die noch übrig geblieben sind, gucken neugierig auf die neue Szene, die der Prophet in der Zwischenzeit gemalt hat. Tatsächlich zeigt eine Figur den reichen Großgrundbesitzer, doch er sieht ganz anders aus als der selbstbewusste Patriarch, den sie gerade haben weggehen sehen. Auf dem Bild steht er abseits, neben dem Stadttor, dem Ort der Gerichtsbarkeit. Beschämt senkt er den Blick. Im Stadttor, man erkennt ihn klar und deutlich, und einige der Beistehenden ziehen laut hörbar die Luft ein, im Stadttor steht jubelnd Binjamin, ein armer Kleinbauer, dem der reiche Großbauer erst vor einigen Wochen mit Hilfe einer juristischen Grauzone die Hälfte seines Landes abgeluchst hat. Der echte Binjamin, der in der hintersten Reihe steht, macht eine Faust in der Tasche und denkt: „Wenigstens einer hat‘s begriffen!" 

Ein phönizischer Händler hat das Ganze interessiert betrachtet. Religiöser Kitsch verkauft sich gut, aber das, was er da sieht, dürfte den Geschmack seiner Kunden kaum treffen. Und der Maler sieht nicht so aus, als könnte man ihn überreden, diese unschönen Szenen, vor allem diese Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, wegzulassen. Nein, erkennt er, hier gibt es nichts zu holen, was man den Leuten verkaufen könnte, und eilt zurück zum Hafen. Auch die übrig gebliebene Zuschauermenge zerstreut sich schnell. 

Einzig ein Töpfer, der sich selbst für ein wenig kunstverständiger als der Rest hält, bleibt noch zurück. Er tippt dem Propheten auf die Schulter, der gerade sein Werk betrachtet. „Was hat denn dein Bild jetzt für einen Titel?" fragt er. „Das Himmelreich?" Der Prophet lässt den Pinsel sinken und denkt eine Weile angestrengt nach. Dann lächelt er und schreibt in die Mitte des Bildes: „Nur noch eine kleine Weile..." Der Töpfer schüttelt den Kopf und geht zurück in seine Werkstatt. 

Machen wir einen Zeitsprung. Deutschland, 3. September 2017. Das Bild gibt es noch. Heute wird es landauf, landab in den Kirchen aus dem Keller geholt. Zum ersten Mal seit einigen Jahren. Es hat Staub angesetzt, Spinnenweben verdecken fast die Hälfte des Rahmens. Es gehört nicht zu den Bildern, die oft hervorgeholt werden, die man in den Kirchen gerne zeigt, auf Postkarten druckt oder bei Facebook und Twitter teilt. Gerade weil es so wenig greifbar ist, so unrealistisch, so unverkäuflich. Die Überschrift „Nur noch eine kleine Weile..." macht das Ganze etwas lächerlich, nach ein paar Tausend Jahren, deswegen hängt man das Bild mancherorts so auf, dass man den Titel gar nicht mehr sieht. Ein paar kunsthistorisch informierte Kommentare werden abgegeben, Mutmaßungen über den Maler und die von ihm benutzte Technik. Mit seinen groben Pinselstrichen und seiner simplen Farbgebung wirkt es fast wie primitive Höhlenmalerei oder wie eine naive Kinderzeichnung, vor allem neben den anderen Bildern, die daneben aufgehängt sind: Hochaufgelöste Digitalfotos von zerstörten Städten und Leichenbergen, bewegte Bilder von LKWs, die in Menschenmengen fahren - Bilder, die auf erschreckende Art daran erinnern, dass die Hölle auf Erden ausbricht, wenn Menschen im religiösen Wahn egal welcher Couleur versuchen, den, ihren Himmel selbst herbei zu holen. Nach einiger Zeit wird das Bild wieder abgehängt. 

Irgendwo in Deutschland steigt eine Küsterin auf die Leiter. Es ist schon Sonntagabend, sie ist nicht vorher dazu gekommen. Als sie das Bild von seiner Halterung lösen will, fällt ihr etwas ins Auge, es sieht aus wie ein Fleck. Irritiert kneift sie die Augen zusammen - und fällt vor Schreck fast von der Leiter! Irgendjemand hat auf dem Bild herumgeschmiert! Sie fasst sich an den Kopf, hätte sie das Bild doch vorher schon wieder sicher in den Keller gebracht. Sie geht noch ein bisschen näher ran. Unter der Titelzeile „nur noch eine kleine Weile" steht mit Filzstift geschrieben: „Bitte jetzt!!!", mit drei Ausrufezeichen. „Ja, das wär was", seufzt sie. Neugierig sucht sie das Bild nach anderen Kommentaren ab. Und tatsächlich. Über den begrünten Karmel hat jemand geschrieben: „Israel + Palästina = endlich Frieden."„Amen", denkt die Küsterin. Neben den jubelnden Armen steht: „Familie X. und alle Trauernden." In einer anderen Schrift, mit einem anderen Stift steht direkt daneben: „Danke!" Und ihr schießt ein Satz aus einem Bibeltext durch den Kopf: „Und die Fesseln seiner Zunge lösten sich... Die Sprachlosen macht er redend." Einen Moment lang überlegt sie, dann lächelt sie, halb verschwörerisch, halb verlegen, holt ihren Kugelschreiber hervor und setzt ihren Namen unter einen der Tauben, die Gottes Wort hören. Sie klettert von der Leiter herunter. Und das Bild kann ruhig noch eine Weile hängen bleiben. 

Was sehen wir, wenn wir uns das Bild anschauen? Nicht wahr? 

Nicht wahr, nur noch eine kleine Weile, dann verwandelt sich der Libanon in einen Baumgarten, und der Karmel wird dem Wald gleich geachtet. Und die taub sind, werden an jenem Tag die Worte des Buchs hören, und befreit von Dunkel und Finsternis werden die Augen der Blinden sehen. Und die Armen werden sich wieder freuen über den HERRN, und die Ärmsten der Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels. Denn es ist aus mit dem Tyrannen,und der Schwätzer ist am Ende, und ausgerottet werden alle, die auf Unheil aus sind, die in einer Rechtssache Menschen zur Sünde verleiten und dem, der sie im Tor zurechtweist, eine Falle stellen und den Gerechten mit Nichtigem verdrängen. Darum, so spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Haus Jakob: Nun wird Jakob nicht mehr zuschanden werden, und sein Angesicht wird nun nicht mehr erbleichen. Denn wenn er seine Kinder, das Werk meiner Hände, in seiner Mitte sieht, wird man meinen Namen heilig halten,und man wird den Heiligen Jakobs heilig halten, und vor dem Gott Israels wird man sich fürchten. Und die irren Geistes sind, werden erkennen, was Erkenntnis ist, und die Nörgler werden lernen, was Einsicht ist.

Wenn Du am Sonntag AfD wählen willst...

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Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text veröffentlichen soll. Weil ich der Meinung bin, dass die Botschaft der Bibel zwar immer und unmissverständlich auch politische Bedeutung hat, Pfarrerinnen und Pfarrer sich aber in Sachen Parteipolitik zurückhalten sollen. Ich könnte jetzt sagen, dass das hier private Äußerungen sind, aber das wäre irgendwie auch Quatsch - nichts, was ich als Pfarrer in der Öffentlichkeit sage, wird einfach so als Privatmeinung abgetan, ob ich dabei jetzt Talar oder Badehose trage. Aber ich glaube, dass wir vor einer Weggabelung stehen, wenn in Deutschland erstmals eine rechtsextreme Partei ins Parlament gewählt werden kann. In solchen Situationen blitzt etwas auf, das man in der Kirchengeschichte den status confessionis nennt: Ein Moment, in dem der Glaube zu Reden und Handeln und Stellungnahme zwingt, in dem Schweigen schuldig macht. 



Vielleicht überlegst Du, bei der nächsten Wahl, wenn Du überhaupt hingehst, die AfD zu wählen. Und - weißt Du was? Ich glaube, Du hast gute Gründe dafür, das zu wollen. Vielleicht bist Du angepisst von der Politik. Vielleicht hast Du das Gefühl, dass unser Land von Politikerinnen und Politikern geführt wird, die die Bodenhaftung verloren haben, die eigene Interessen verfolgen und sich nicht um Dich und deine Probleme kümmern. Ich glaube nicht, dass das so ist, zumindest nicht in der Regel. Aber ich kann verstehen, dass das Gefühl da ist und Dich wahnsinnig macht. Hey, ich fahre selber Diesel, habe bewusst ein Auto gekauft, das der Hersteller als besonders umweltfreundlich anpreist und frage mich jetzt, ob ich nächstes Jahr damit noch in die Innenstadt darf. Ich war in den letzten Jahren viel in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg unterwegs und habe Dörfer gesehen, in denen Geschäfte, Kirchen und ganze Straßen verrammelt und verlassen waren, bin Menschen begegnet, die von der Gesellschaft im Großen und Ganzen im Stich gelassen wurden. Auch von der Politik. Ich habe mit Menschen gesprochen, die in den Neunziger Jahren aus Russland oder Kasachstan hierher kamen und höchstens die kalte Schulter gezeigt bekommen haben und bis heute noch gezeigt bekommen. Und die jetzt das unglaubliche Engagement für die Geflüchteten aus Syrien mitbekommen und fragen: Wo wart Ihr damals? Wo seid Ihr jetzt? Ich freue mich, dass wir es dieses Mal besser hinbekommen haben, unsere Arme zu öffnen - und was Ihr erlebt habt, tut mir leid. Und ich sehe in unserem Stadtteil auch die Probleme, die es gibt. Die Schwierigkeiten, die Geflüchtete beim Einleben haben. Aber ich glaube nicht, dass wir das durch Verbote, Diskriminierung und dichte Grenzen lösen werden.

Ich habe auch keine Lösungen parat. Und das ist das einzige, was mich mit der AfD verbindet: Sie hat sie auch nicht. Sie tut so. Und sie tut das auf eine Art und Weise, die viele Leute anspricht, weil sie einfache Lösungen verspricht und auf die Leute zeigt, die angeblich schuld sind. Dabei scheut sie auch vor Lügen nicht zurück - überall in sozialen und sonstigen Medien findet Ihr gerade vor der Wahl Faktenchecks, die Aussagen von hochrangigen Parteivertretern sehr glaubhaft widerlegen. Ich weiß, dass es manchmal einfach ist, Lügen zu glauben, selbst wenn man sie als solche erkennt. Weil wir Menschen halt so ticken. Aber das ist das Blöde am Leben: Es ist nie einfach. Nie. Wer das Gegenteil behauptet, ist blind. Oder betrügt die Leute, die ihm zuhören. Schon deswegen sollte man vorsichtig sein, wenn die AfD sich als besonders "christlich" aufspielt, wenn auf Pegida- und sonstigen Demos Kreuze getragen werden. Jesus hat einmal gesagt: "Die Wahrheit wird euch freimachen" (Johannes 8,32). Die Wahrheit, so schmerzhaft und kompliziert und vernebelt sie manchmal ist. Und bestimmt haben auch in der Vergangenheit Politikerinnen und Politiker gelogen, bestimmt stehen in manchen Zeitungen Dinge, die nicht stimmen. Das ist aber kein Grund, das bei der AfD zu akzeptieren. Wenn sie alles besser machen will, sollte sie hier anfangen. Das tut sie aber nicht. 

Vielleicht hast Du das Gefühl: Wenigstens sagen die mal was! Auch das kann ich verstehen. Ja, es hat in unserer Gesellschaft, gerade in den Kreisen, in denen ich mich bewege, Tabus gegeben, Probleme, die man nicht beim Namen genannt hat. Vielleicht war das wichtig, weil die AfD zeigt, dass es schwierige Themen sind, bei denen man oft in brutalsten Populismus verfällt. Aber gerade in ihrer Anfangszeit hat die AfD auch zwischendurch mal richtige Fragen gestellt - ihre Antworten sind aber scheiße. Was die einfachen Lösungen angeht: Siehe oben. 

Vielleicht hast Du Vertrauen in die AfD, weil so viele Wirtschaftsprofessoren Mitglied sind. Oder eher früher mal waren. Vielleicht denkst Du deswegen: Früher hab ich für mein Geld viel mehr bekommen, und die müssen doch wissen, wie man das wieder ändern kann. Dann informier' Dich mal über die Vertreterinnen und Vertreter der AfD, wie viele von ihnen Unternehmen in den Sand gesetzt haben, wer alles vor Gericht steht wegen Betrug, Volksverhetzung und Körperverletzung. Es sind nicht alle, aber es sind erschreckend viele. Und überleg Dir, ob Du wirklich glaubst, dass sie es anders machen werden, wenn sie an der Macht sind. Nochmal Jesus: "Wer im Kleinen unzuverlässig ist, der ist auch im Großen unzuverlässig" (Lk 16,10).

Vielleicht bist Du schwul und hast Angst, dass Du mit deinem Freund nicht mehr Hand in Hand durch die Straßen gehen kannst, insbesondere dort nicht, wo viele Menschen aus anderen Kulturkreisen wohnen, die das nicht verstehen oder verstehen wollen. Auch das kann ich nachvollziehen. Rechte Parteien, von PRO-NRW bis zur AfD, haben auch diese Angst aufgegriffen und damit schwule Wähler geködert. Wenn Du mutig bist, probier mal ein Experiment: Schnapp Dir deinen Freund (wenn Du keinen hast, darf es auch ein anderer Angehöriger des gleichen Geschlechts sein), und dann geht zu einer AfD-Wahlveranstaltung. Und guck mal, wie es da mit der Toleranz aussieht. Wie gesagt, Du musst ein bisschen mutig sein. Oder wahnsinnig. Und denk dran: Das Verständnis, was Du von anderen für Dich einforderst, haben Generationen vor Dir hart erkämpft. Und andere können es von Dir genauso verlangen. 

Vielleicht hast Du die Schnauze voll vom ganzen Gerede über die Nazizeit und findest deshalb gut, was Alexander Gauland und Björn Höcke sagen. Dann frag Dich mal ernsthaft, ob Du in deinem Leben jemals dadurch Nachteile hattest. Oder ob deine Abneigung gegenüber dem Thema damit zusammenhängt, dass man Dich in der Schule damit bis zum Erbrechen genervt hat. Mir ging das so. Und ich kann auch nicht garantieren, dass ich das in den Zeiten, als ich an Schulen gearbeitet habe, besser rüberbringen konnte. Aber ein Teil meiner Familie kommt aus Schlesien (deswegen zähle ich in allen Statistiken als "Deutscher mit Migrationshintergrund"), ich hatte Verwandte in Auschwitz. Und glaub' mir: Die Leute wussten, was da abging. Alle. Und die allermeisten haben zugesehen. Am Ende hat das 80 Millionen Menschen das Leben gekostet. Zum Teil auch die, die dachten, sie wären aus dem Schneider. 

Vielleicht bist Du Christin oder Christ und denkst: Die schreiben sich das wenigstens auf die Fahnen. Das tun sie. Aber sie meinen es nicht ernst. Oder sie haben ein paar ganz entscheidende Dinge nicht verstanden. Das "christliche Abendland" zum Beispiel ist keine Erfindung von Jesus, sondern der Romantik und der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die ersten Gemeinden kurz nach Jesu Tod waren auch deswegen so erfolgreich, weil sie erkannten, dass der Glaube Menschen über die Kulturgrenzen hinweg verbindet: "Es spielt keine Rolle mehr, ob Ihr Juden seid oder Griechen" (Galater 3,24). Und die größte Bedrohung für Christentum und Kirche geht nicht von "dem Islam" aus - im Gegenteil, bei uns in der Stadt erlebe ich es, dass gerade der Kontakt zu Muslimen Christen dabei hilft, über ihren Glauben zu sprechen. Die größte Bedrohung für Christentum und Kirche ist nicht eine andere Religion, sondern geht von denen aus, die sich zu einem Glauben bekennen, von dem sie nichts wissen, und dessen Schätze sie missbrauchen, um Wählerstimmen zu fischen. 

Ich weiß nicht, ob Du bis hierher gelesen hast. Wenn ja: Danke! Für deine Zeit, für deine Aufmerksamkeit. Bestimmt bist Du in ganz vielen Dingen nicht meiner Meinung, vielleicht stempelst Du mich jetzt als dämlichen Gutmenschen ab. Damit kann ich leben, Jesus hat ja mal gesagt, man soll auch noch die andere Backe hinhalten, wenn man eine Ohrfeige bekommt, und sei es mit Worten. Aber ich finde das Wort "Gutmensch" sehr okay - in der Bibel steht auch: "Gutes zu tun vergesst nicht" (Hebräer 13,16). Und ich vertraue lieber einmal zu viel, als dass ich meine Stimme einer Partei gebe, die dieses Land, unsere Kultur, unseren Sozialstaat, unser Grundgesetz und unseren Glauben verraten und vernichten will. In dieser Frage lässt mir mein Glaube keine Wahl. Lässt mir Jesus keine Wahl.

Wenn Du am Sonntag AfD wählen willst: Bitte, tu es nicht. Sei weiter wütend, wenn Du Grund dazu hast, aber mach was Positives draus. Und denk immer dran: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe - und der Besonnenheit. 

Und wenn Du Dich am Sonntag für die AfD in ein Amt wählen lassen willst: Tu Buße. Und kehr um. Es gibt Ausstiegshilfen, und es gibt Kirchen und Gemeinden, die Dich mit offenen Armen empfangen werden. Und im Himmel ist die Freude über einen Verlorenen, der zurückfindet, sowieso größer als über 100 Gutmenschen. 

Gottes Segen Dir.

Ja, aber...? | Predigt im Jubiläumsgottesdienst (Mt 6,25-34)

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Manchmal erwischt es einen. So wie vor ein paar Tagen. Irgendwo zwischen theologischem Nachmittag und Jugendausschuss ein Anruf. Die Band braucht noch irgendetwas, das wir nicht haben. Weitere Anrufe bei diversen Leuten, wer so etwas haben kann. Niemand. Haut das trotzdem hin? Ein sorgenvoller Blick auf die Wetter-App. Bleibt’s dabei, Sonne und kein Regen? Und die ganzen anderen Fragen: Wie viele Leute kommen wohl heute? Hoffentlich haben wir genug zu essen, und wer wollte nochmal den Getränkestand besetzen? Und mittenrein spricht Jesus: Darum sollt ihr euch nicht sorgen. 

Ein Teil in mir atmet für einen winzigen Moment erleichtert auf. Und ein anderer Teil, der, der in der Regel um einiges größer ist, sagt sofort: Ja, aber… In der Seelsorgeausbildung habe ich gelernt, dass ein Aber immer alles, was davor gesagt wurde, zunichtemacht. Das war ganz beeindruckend, wie laut sie vorhin alle gesungen haben, richtig mitreißend. Aber das waren ja auch bekannte Lieder. 

Ja, aber. Nicht „Ja“ und „Amen“. Ja, aber. 
Wenn ich ehrlich bin, durchzieht das „Ja, aber“ meinen Glauben. Vielleicht ist das zutiefst menschlich. Von der Stelle bringt es allerdings nicht: Ja, aber… ein halber Schritt nach vorn, ein ganzer wieder zurück. 

Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet. Ja, aber satt werden möchte ich schon. 

So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel… unser tägliches Brot gib uns heute. Ja, aber wenn ich davon etwas einfrieren kann, ist auch gut. 

Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Ja, aber auch Vögel sterben doch. Verhungern oder werden gefressen oder knallen gegen Fensterscheiben. 

Sorgt euch nicht. Ja, aber wir sorgen uns doch, wir, die wir hier sitzen, in unserem Teil der Erde vielleicht nicht um Essen und Kleidung, aber Sorgen gibt es weiß Gott genug, Sorgen von der Sorte, die sich nicht einfach so mit einem Blick in den Himmel oder die Botanik wegwischen lassen. 
Woher kommt das Geld für die Stromrechnung in diesem Monat? 
Ist meine Ehe noch zu retten? 
Was steht am Montag rot auf weiß unter der Mathearbeit? 
Was heißt das für mich, wenn in den Nachrichten gesagt wird, dass bei Thyssenkrupp 2000 Stellen gestrichen werden sollen? 
Ist dieser Knoten, den ich da ertaste, echt, und verbirgt sich dahinter etwas Böses? 
Was wird aus uns, wenn sich tatsächlich viele Leute verarschen lassen und die AfD wählen?

Und seltsamerweise – wenn die Fragen so hart auf hart kommen, verstehe ich einen Teil von dem, was Jesus sagt. Es gibt ein Zuviel an Sorgen. Es gibt die Gefahr, sich zu versteifen, zu fixieren, nichts mehr zu sehen als das, worüber man sich Sorgen macht, weil alles nur noch darum kreist. Der Mensch ist das Tier, das sich sorgt, hat Robert Gernhardt einmal gesagt. Luther, neben anderen, hat vom in sich selbst verkrümmten Menschen gesprochen. Und Jesus sagt: Ihr seid mehr. Mehr als die Spatzen am Himmel, mehr als die Wildblumen auf dem Feld. Mehr als das krumme Holz, zu dem ihr euch selber macht. Kopf hoch. Wenn Ihr keinen Ausweg mehr seht, wenn Ihr merkt, dass sich all Euer Denken nur um den morgigen Tag dreht, Ihr an nichts anderes mehr denken könnt als an Essen und Anziehen – dann guckt nach oben. Dazu müsst ihr Euch aufrichten. Und guckt in den Himmel und sehr euch die Vögel an. Und atmet einmal tief durch, fühlt, wie die Lungen sich mit Luft füllen und der Kloß im Hals sich ein bisschen bewegt. Und wenn Ihr keine Vögel seht und keine Blumen um Euch herum habt, dann tut es auch der Blick in das unendliche Blau einer sternenklaren Nacht oder auf das kleine Grasbüschel, das sich einen Weg durch eine Ritze im Asphalt bahnt. Alles, was Euch davon abhält, die halbe Nacht darüber nachzudenken, was morgen unter der Mathearbeit steht, oder im Internet in allen möglichen Gesundheitsforen nachzuschlagen, was ein Knoten oder auch nur ein simpler Husten alles für schreckliche Dinge sein können. 

Ja, aber… meldet sich ein Teil in mir, und vielleicht auch in Ihnen, und diesmal bin ich ganz froh darüber, weil er mich davon abhält, die Bergpredigt nur in lauter Kalendersprüche und Wellnessweisheiten zu zerlegen. Jesus sagt nicht: Wenn euch die Welt zu gemein ist, dann guckt euch ein paar Katzenvideos an. Das wäre für eine Antrittspredigt, und das ist die Bergpredigt im Matthäusevangelium, doch ein bisschen zu wenig, und für eine Predigt zum Jubiläum auch. Jesus sagt nicht: Ertränkt eure Sorgen in Kitsch oder Natur oder sonstwo, sondern mutet uns eine ganz andere Logik zu als die, der wir im Alltag folgen – die Logik des Sabbats, wenn man so will. Die Erfahrung: Ich lege die leeren Hände in den Schoß, lasse alle Arbeit ruhen, lege alles zur Seite, was mich die ganze Woche beschäftigt – und die Welt dreht sich doch weiter. Das ist keine Entspannungsübung. Im Judentum gilt das Halten des Sabbats als eines der wichtigsten Gebote überhaupt – und gleichzeitig als eins der schwersten. Vielleicht, weil Ruhe ohnehin schwer auszuhalten ist, vielleicht auch, weil dieses Nicht-Sorgen an den Fundamenten rüttelt, auf denen wir unser Leben aufbauen, weil es ent-täuscht im wahrsten Sinne des Wortes, an der Illusion kratzt, dass wir alle unser Leben selbst in der Hand haben. 

Das wiederum passt sehr gut zu einer Predigt zum Jubiläum. Denn wir feiern nicht uns selbst. Obwohl, doch, ein bisschen tun wir das, und das ist auch gut so. Aber [sic] wir sagen auch Danke dafür, dass wir hier in diesem Haus seit 50 Jahren Gemeinde sein durften und weiterhin dürfen. 

Die allermeisten von Ihnen sind viel länger in der Gemeinde als ich, aber auch ich habe in zwei Jahren die Erfahrung gemacht, dass alles Planen, alles Vorbereiten, alles Absichern hin nach allen Seiten seine Grenzen hat. Der letzte Sonntag war so ein Beispiel, ein Gottesdienst, der über wochenlange Chorproben und das Bestellen von Stempeln und UV-Farbe und besonderen Lampen sehr ausführlich vorbereitet wurde, und vor dem mindestens der Pfarrer ein bisschen schlecht geschlafen hat wegen all der Unwägbarkeiten. Und die, die nicht dabei gewesen sind, können sich erzählen lassen, wie es war, und wie viel da mit reingespielt hat, das wir weder voraussehen noch planen konnten. Und andersherum – wir haben auch in anderen Zusammenhängen erlebt, dass zum Beispiel Geld allein ein schlechter Ratgeber ist, weil selbst bei gewissenhafter Planung ein Restrisiko bleibt, in welche Richtung auch immer. In dem Vers direkt vor unserem Predigttext sagt Jesus: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. 

Das hat etwas Frustrierendes und Entlastendes zugleich – letzten Endes können wir als Gemeinde, das hat Jan Hendriks einmal gesagt, nichts anderes tun als Fässer mit Wasser herbeizuschaffen und darauf zu hoffen, dass der Herr sie in Wein verwandelt. Frustrierend, weil so auch unser kirchliches Leben viel weniger planbar ist als wir das gern hätten, als es eigentlich sein müsste angesichts der vielen Menschen, die davon abhängen. Und entlastend zugleich, weil die Zukunft unserer Kirche letzten Endes weder an Verwaltungsstrukturreformen, noch an Rücklagen oder Imagekampagnen hängt. So wichtig das auch alles ist – am Ende liegt die Zukunft dieses Hauses, dieser Gemeinde, liegt unser ganzes Leben in anderen Händen als in unseren. 

Und wem das jetzt zu wenig ist, der gehe nach dem Gottesdienst raus und gucke auf die Vögel am Himmel und die Blumen, die überall wild auf der Wiese wachsen und lasse sich daran erinnern, dass wir in guten Händen sind. Das befreit. Und das verändert den Blick auf die Welt. Interessanter Weise – den Vögeln zugucken, Blumen in Ruhe anschauen… das ist auch das, was einem Sterbende regelmäßig sagen, wenn man sie fragt, was sie anders machen würden. 

Es befreit, und es verändert den Blick auf die Welt In der Bergpredigt, in der Antrittsrede Jesu ist von Essen und Trinken die Rede, und vom Anziehen. In seiner letzten öffentlichen Ansprache wird auch nochmal davon die Rede davon sein, allerdings in einer etwas anderen Tonlage: Ich war hungrig, und Ihr habt mir zu Essen gegeben, ich war nackt, und Ihr habt mich gekleidet. Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, dass habt ihr mir getan... Ich glaube nicht, dass diese Querverbindung ein Zufall ist. Wenn wir die Sorge um das eigene nackte Leben in andere Hände legen, wird der Blick frei, weitet sich der Horizont, und wir entdecken Gemeinschaft. Mit Barbara Brown-Taylor gesagt: Wenn wir uns als das erkennen, was wir sind, als Erdlinge, deren Leben nicht in der eigenen Hand liegt, finden wir uns plötzlich mit allen Menschen der Welt auf dieser Seite von Gottes Theke wieder.

„Ja, aber…“ sagt etwas in mir, aber der Teil ist ein bisschen kleiner als sonst. Und ich denke mir die Antwort: Ja, aber alles wird gut. Jetzt wird gefeiert.

Beten wir mit Worten von Jeremias Gotthelf:

Herr, unser Gott, du hast unzählige Wege, 
auf denen du möglich machst, 
was unmöglich scheint. 
Gestern war noch nichts sichtbar, 
heute nicht viel, 
aber morgen steht es vollendet da, 
und nun erst gewahren wir rückblickend, 
wie du unmerklich schufst, 
was wir unter großem Lärm nicht zustande gebracht haben.
Amen. 

EINGANGSGEBET AUS DEM JUBILÄUMSGOTTESDIENST

Ewiger Gott,

wir sind heute zusammen, um zu feiern und zu danken. 50 Jahre. Für uns ist das eine lange Zeit, für dich nicht mehr als ein Wimpernschlag. Aber wir vertrauen darauf, dass Du Dich auf unsere Maßstäbe einlässt, dass nichts, was wir tun, in deinen Augen zu klein ist. Und so treten wir vor dich, nicht nur mit dem Dank für alles, was wir erreicht haben. Sondern auch mit dem, was uns nicht gelungen ist, mit den dunklen Flecken unserer ganz eigenen Geschichte.

Gott, du suchst das Verlorene und bringst es heim.
Wir klagen dir die vielen Male, an denen wir Menschen verloren haben,
um die wir nicht genug gekämpft haben,
bei denen wir versäumt haben, genauer hinzuhören und zu verstehen.
Wir bitten dich auch für die blinden Flecke, die wir heute haben.
Die Menschen, die wir aus dem Blick verlieren,
nicht sehen, um die wir uns nicht kümmern.
Lass sie nicht allein, wo wir versagen,
und mach unsere Herzen weit
unsere Augen offen,
unsere Ohren hellhörig.

Gott des Friedens,
wir klagen dir das, wovon wir auch nicht frei sind.
Streit, Konflikte und Zwietracht um Dinge, die es nicht wert sind.
Wir bringen die Menschen vor dich,
die uns im Streit verlassen haben,
wir lassen die Frage los, ob sie recht hatten oder wir,
und legen sie Dir einfach ans Herz,
dass Du ihre Wege begleitest und sie segnest.

Gott, du sorgst für uns wie für die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Feld.
Wir klagen dir die falschen Entscheidungen,
die wir aus Angst getroffen haben.
Weil es uns schwerfällt, zu glauben, dass du für uns sorgen willst.
Weil es nicht einfach ist, uns einzugestehen,
dass letzten Endes alles in deiner Hand liegt.
Hilf uns, die Balance zu finden
zwischen Loslassen und Anpacken.
Und lass auch dort, wo wir falsch entscheiden,
aus deiner Gnade Gutes wachsen.

Gott, wir haben Grund zum Feiern und zum Danken.
Und Grund, einzusehen:
Wir haben keine Zuflucht als dein unergründliches Erbarmen.
Darum bitten wir dich.
Für uns und alle Welt:
Herr, erbarme dich.

Zurück ans Lagerfeuer

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Ich mag Abendgottesdienste. Vor allem, weil ich, glaube ich, eher Nachteule als Morgenmensch bin. Aber auch das ganze andere. Das Licht, das anders ist, die Kerzen, die umso heller leuchten. Das gute Gefühl, wirklich Feierabend zu haben, wenn ich die Kirche verlasse. Mit einem Segen in die Nacht zu gehen. Die selten gesungenen Abendlieder, die so viel lebensweiser und so viel poetischer als das (für mich immer halb gelogene) "All Morgen ist ganz frisch und neu"über das Leben mit einem mutmaßlich bewohnten Himmel überm Kopf singen. 


In der evangelischen Landeskirche sind Abendgottesdienste selten. Unter der Woche findet abends trotzdem ein Großteil des kirchlichen Lebens statt: Gruppen und Kreise, aber vor allem auch Gremienarbeit. Was nicht weiter verwundert, da in den Sitzungen überwiegend ehrenamtlich Engagierte sitzen, die hier ihren Feierabend verbringen. 

Letztens bin ich auf die Forschungen der US-amerikanischen Anthropologin Polly W. Wiessner gestoßen. Die hat längere Zeit bei den Ju|'hoansi gelebt, einem indigenen Volk in der Kalahari-Wüste. Sie hat dort die Kommunikationsgewohnheiten untersucht und in einem sehr aufschlussreichen Aufsatz folgendes Ergebnis über den Unterschied der Gespräche am Tag und bei Nacht am Lagerfeuer festgehalten (wer nicht so viel Zeit hat, kann sich auch einen kürzeren Artikel zu Gemüte führen, aus dem das folgende Zitat stammt):

Tagsüber drehen sich die Gespräche vor allem um ökonomische Aktivitäten - Arbeit, Essensbeschaffung, Austausch über Ressourcen. [...] Es hat viel mit sozialen Themen und mit Kontrolle zu tun: Kritik, Beschwerden und Nörgelei. Abends und nachts lassen die Menschen los, werden lockerer und suchen Unterhaltung. Wenn es tagsüber Konflikte gegeben hat, lassen sie diese hinter sich und kommen wieder zusammen. Abendliche Gespräche haben mehr mit Geschichten zu tun, mit der Unterhaltung über die Charaktereigenschaften Dritter, die aber zum weiteren Netzwerk gehören, und mit dem Nachdenken über die Welt der Geister und wie diese die Menschenwelt beeinflussen. Es gibt auch Singen und Tanzen, was innerhalb einer Gruppe verbindet.

Wiessner bestätigt damit die umfangreiche Forschung vor ihr, die die Bedeutung der Kontrolle über das Feuer für die menschliche Entwicklung insbesondere im Blick auf sozial wirksame Narrative herausgestellt hat. Es scheint kein weiter Weg, von dort aus auf die Traditionsprozesse der biblischen Bücher zu schließen, deren Sitz im Leben ja zumal in früher Zeit das nomadische Lagerfeuer war. Wiessners Untersuchung macht deutlich, dass es hierbei nicht nur um bloße Unterhaltung und Wissensweitergabe, sondern auch um die Konstruktion sozialer und spiritueller Identitäten geht. Die Theologie weiß das schon länger, bei der Kirche bin ich mir nicht so sicher. 



Immerhin, eins haben wir behalten: Kerzen. Wiessner misst dem Feuer in der Nacht nicht nur als Schauplatz sozialer Interaktion, sondern auch als Medium große Bedeutung bei: 

Ausreichend heller Feuerschein unterdrückt die Melatoninproduktion und sorgt für Energie zu einer Tageszeit, zu der wenig wirtschaftlich produktive Arbeit geleistet werden kann, dabei gibt es genug Zeit. In der heißen Jahreszeit hilft die Kühle des Abends, aufgestaute Energie zu entladen, in der kalten Jahreszeit rücken die Leute zusammen. Die Gemeinschaft am Feuer setzt sich oft, wenn auch nicht immer, aus Menschen verschiedener Altersstufen und Geschlechter zusammen. Mond und Sterne wecken Imaginationen des Übernatürlichen ebenso wie ein Gefühl der Verwundbarkeit gegenüber bösen Geistern, Raubtieren und Feinden, denen man die Gemeinschaft entgegenhält. Körpersprache wird im Feuerschein weniger deutlich, das Bewusstsein für sich selbst und andere ist geringer. [...] Die Themen des Tages werden fallen gelassen, während kleine Kinder im Schoß von Verwandten einschlafen. [...] Die Sehnsucht nach dem Feuer als Schauplatz sozialer Vertrautheit und Offenheit im Gespräch bleibt in hohem Maße ein Bestandteil modernen Lebens und ein potenzielles Forschungsfeld. Obwohl Gespräche am Lagerfeuer in unserem täglichen Leben selten sind, bleiben sie ein geschätzter Bestandteil von Pfadfinderausflügen, Picknicks, Outdoor-Trips und ökotouristischen Unternehmungen, die auf soziale Intimität und das Teilen von Wissen zielen. Die Macht der Flamme wird in unseren Häusern durch Kamine und Kerzen reproduziert. Der dänische Geist des "hygge" (Gemütlichkeit in Gemeinschaft) ist vom planvollen Platzieren von Kerzen, "lebenden Lichtern" gekennzeichnet, um vertrauliche Gespräche zu ermöglichen.



Schon hier könnte man pausieren und darüber nachdenken, wo solche Erfahrungen im kirchlichen Leben jenseits von Konfifreizeiten ihren Sitz im Leben haben könnten. Wiessner geht aber noch einen Schritt weiter und wirft Fragen auf, die sich an der Möglichkeit der Tagesverlängerung durch elektrisches Licht entzünden - damit ist sie keineswegs allein, zahlreiche Vertreter religiöser und säkularer Spiritualitätsansätze thematisieren das in schöner Regelmäßigkeit: 

Wie Jäger und Sammler wächst unsere Vorstellungskraft, gewinnen neue Perspektiven und erweitert sich unsere Horizont anhand von Geschichten. Nichtsdestotrotz dringen künstliches Licht und digitale Kommunikation weltweit in die Nacht ein, verwandeln Stunden der Dunkelheit in ökonomisch produktive Zeit und überlagern so die Zeit für Geselligkeit und Geschichten. Der Tag endet auf Knopfdruck, ohne dass man sich die Zeit nimmt, Beziehungen zu pflegen, zu entdecken, zu reflektieren oder zu heilen, oder die Themen des Tages mit der Kohle verglühen zu lassen. 




Wiessners Gedanken beschäftigen mich schon eine ganze Weile, weil in der von ihr untersuchten Gemeinschaft am Lagerfeuer Dinge aufscheinen, die mir (und, wenn ich meinen Gemeindegliedern glauben kann, anderen auch) im kirchlichen Alltag fehlen: Das scheinbar ziel- und zwecklose Beisammensitzen, das Teilen von Geschichten und Erfahrungen, das gemeinsame Erleben des Ausgesetztseins und gleichzeitigen Gehaltenseins unter freiem Himmel. Mit Abendgottesdiensten allein ist das sicherlich nicht zu ersetzen, und natürlich lassen sich nicht alle Sitzungen am Abend einfach so abschaffen. Immerhin: In unserem Presbyterium (und in anderen auch) gibt es den klugen Grundsatz, dass nach 22 Uhr keine Beschlüsse mehr gefasst werden. Vielleicht lassen sich durch kleine Akzentverschiebungen bereits Dinge wiedergewinnen, die im Alltag leicht verloren gehen. Zum Beispiel dadurch, dass die unvermeidliche Andacht nicht zu Beginn, sondern am Ende einer Sitzung gehalten wird. Die wird nicht mehr nach dem Muster einer Mini-Predigt zur Tageslosung oder zu einem bestimmten Thema funktionieren, sondern wahrscheinlich zur Entwicklung oder Wiederentdeckung eigener Formen führen, die stärker auf Gemeinschaft, stärker auf Spüren, Erleben und Teilen abzielen.

Bewahre uns, o Herr, wenn wir wachen,
behüte uns, wenn wir schlafen,
auf dass wir wachen mit Christus
und ruhen in Dir.

Erntedankmalanders

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ANFÄNGLICHE ÜBERLEGUNGEN


Am Anfang stand das Stadtkindsein. Und die Erkenntnis, dass es wenig Sinn ergibt, für einen Tag im Jahr Strohballen zu mieten, nur um wenigstens eine Andeutung der Hochstimmung herzuzaubern, in denen in ländlichen Gebieten mit noch echten Bauern und Feldern und so der Erntedankgottesdienst mit großem Besteck und pomp and circumstances begangen wird. Am Anfang stand also die Frage, wie man Erntedank mit einer Gemeinde feiern kann, in der Saat und Ernte außer bei Geranien keinen wirklichen Sitz im Leben mehr hat und man also auf umfangreiche und z. T. intellektuell recht anspruchsvolle Transferleistungen vertrauen muss. Philipp Beyhl schreibt dazu in seiner Dissertation von 2007: "Es bleibt ein unmögliches Fest, wenn es als Modifikation alter Ernte- oder vergangener Erntedankfeste verstanden wird". Auswege hieraus bietet sicherlich Brot für die Welt, wo jedes Jahr kluge und vielseitige Arbeitshilfen und Gottesdienstentwürfe herausgegeben werden - die aber bei uns in der Gemeinde schon in einer Kirche gut umgesetzt werden. 

Am Anfang stand auch Thanksgiving. Genauer gesagt, die Abschlussszene aus dem schlimm-großartigen Film Latter Days von C. Jay Cox, in dem es um das Coming-Out eines jungen Mormonenmissionars geht. Am Ende laufen die Fäden zusammen, und je öfter ich die Szene sehe, desto mehr entdecke ich Dinge, bei denen ich denke: So stelle ich mir Kirche vor, so soll Gemeinde sein. 

A toast, an affirmation, a prayer of thanks. I want you to know that, wherever we find ourselves in this world, whatever our successes or failures, come this time of year, you will always have a place of my table. And a place in my heart. 

Überhaupt, Jacqueline Bisset alias Lila Montagne würde eine ziemlich gute Pfarrerin abgeben. Die Schlussszene kann man übrigens hier angucken. 

Am Anfang stand auch ein Gemeindeprojekt, das Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Herkünfte und Milieuzugehörigkeit ein anderes Verhältnis zum Säen und Ernten beschert hat: Der Gemeinschaftsgarten Uellendahl, über den Stadtteil verteilte Hochbeete, die von Grundschulklassen, KiTa-Gruppen, Konfis mit Seniorinnen und Geflüchteten bewirtschaftet werden. Am Anfang war auch mal die Idee, draußen rund um die Beete zu feiern - aber in Wuppertal sind die Wetteraussichten im Frühherbst dann doch alles andere als sonnig...




DIE IDEE


Aus diesen Anfängen, und den übergeordneten Zielen, den Abend als gottesdienstliche Zeit zurückzuerobern und nochmal neu über das Abendmahl nachzudenken, entstand die Idee, im Gottesdienst aus den Ernteerträgen der letzten Saison etwas zu kochen. Und wenn schon, dann natürlich auf dem Altar Abendmahlstisch. Die Idee ist nicht neu, Thomas und Gabi Erne haben das u. a. 2012 schon einmal gemacht, aber wir wollten es ein bisschen weniger ostentativ haben, als es schnittbedingt im Video den Anschein hat: Das Kochen sollte ein natürlicher Teil des Gottesdienstes sein - gleichzeitig ging es natürlich auch, in bester Kirchentagstradition, um den "Ruf in die Gemeinschaft der Christinnen und Christen mit Christus, das Gedächtnis an sein Leben und Wirken für uns, die Vergebung von Schuld, de[n] Ruf zur Einheit, die körperliche Wahrnehmung mit allen Sinnen, die Heiligung des alltäglichen Essens und Trinkens, die Gegenwart des Auferstandenen unter uns, de[n] Blick in das Reich Gottes". Wir wollten dabei keinen ausdrücklichen Abendmahlsgottesdienst feiern - aber unter diesen Vorzeichen verschwimmen die Grenzen ohnehin. Die theologische Fachliteratur zum Thema "Essen und Glauben" ist, zumal im englischsprachigen Bereich, enorm breit gefächert - an dieser Stelle sei exemplarisch das wunderbare Buch "The Theology of Food. Eating and the Eucharist" von Angel F. Méndez Montoya (Hoboken NJ u. a. 2009) empfohlen - schon allein deswegen, weil der Verfasser öfters schon einmal in Wuppertal zu Gast war.

Also haben wir zu einem Koch-und-Ess-Gottesdienst am Samstag vor Erntedank eingeladen und über die verschiedenen Kanäle um Zutatenspenden gebeten - vorzugsweise Selbstgezogenes oder -geerntetes. In beiden Jahren kam jeweils genug zusammen. Beim ersten Versuch vor einem Jahr gehörte der Samstag den Konfis, mit ihnen haben wir das bewährte Abendmahlsbrot gebacken. Das hatte den Vorteil, dass die Konfis, die dann auch im Gottesdienst waren, sich sehr schnell als Gastgeber_innen verstanden haben. Dieses Jahr hatten wir nochmal eigens zum vorbereitenden Schnibbeln eine Stunde vor Beginn eingeladen. Einerseits aus Gründen der Arbeitsökonomie, andererseits machen wir auch die Erfahrung, dass die praktische Mithilfe vor allem in der Küche für viele eine Möglichkeit des (Wieder-)Einstiegs in das Gemeindeleben bietet. Wenn das Format erst einmal ein bisschen routinierter geworden ist, könnte man darüber nachdenken, diese Punkt auch nochmal religionspädagogisch zu unterfüttern, z. B. mit Gesprächsanregungen, Geschichten oder kleinen Inputs zu den jeweiligen Lebensmitteln oder zum Thema "Essen und Glauben".

Vielleicht vor dem Ablauf nochmal kurz etwas zum Setting: In der Kirche sind Esstische für jeweils 7-8 Personen aufgestellt und eingedeckt, inkl. einer Suppenterrine. Auf einem niedrigeren Tisch vor dem Abendmahlstisch (oben drauf zu kochen wäre wegen der Höhe arbeitssicherheitsmäßig problematisch) steht ein großer Topf mit Gemüsebrühe auf einer Induktionsplatte, daneben oder drum herum die vorbereiteten Zutaten - die Deko wird also fast komplett verwendet. Während der Lieder kommen die Zutaten je nach Garzeit in die Suppe; hier kann man gut Kinder beteiligen. In der Küche wartet außerdem ein weiterer vorbereiteter Topf - nach unseren Erfahrungen braucht man für 40 Leute zwei randvolle 10-Liter-Töpfe Suppe. Wenn es ans Essen geht, kommt von jedem Tisch eine Person mit der Terrine nach vorn - allein das ist ein zutiefst rührender und theologisch sehr stimmiger Anblick: Die Leute kommen zum Altar, um satt zu werden. Das Brot wird von den Konfis ausgeteilt. 




Es gibt noch einige andere interaktive Elemente, hier erstmal der Ablauf:


DER ABLAUF

  • Musik zum Eingang (fängt schon 5 Minuten vor Beginn an
  • Begrüßung und entfaltetes Votum, dabei strophenweise Lied: "Du bist da, wo Menschen leben/lieben/hoffen"; währenddessen: Kerzen auf den Tischen anzünden
  • Eingangsgebet (ist auf dem Liedblatt abgedruckt und wird von einer/einem Freiwilligen gelesen)
  • Lied
  • Lesung
  • Lied
  • Predigt 
  • Meditative Reflexion
  • Lied
  • Fürbitte/Sharing, dazwischen Liedstrophe
  • Unser Vater
  • Essen (nach 30 Minuten mal checken, wie weit die Leute sind)
  • Kurzes Dankgebet
  • ggf. Abkündigungen
  • Lied
  • Segen
  • Musik
Liedblatt: Auf dem Liedblatt ist der gesamte Ablauf notiert und kommentiert.
Meditative Reflexion: Die Predigt endet mit einer Frage. Letztes Jahr, als es um das Säen und Ernten ging, mit der Frage: "Für welche Ernte bin ich dankbar? Welche steht noch aus? Um welche Saat, die noch nicht aufgegangen ist, trauere ich?" Dieses Jahr, wo es um Menschen ging, von denen man etwas über das Leben und/oder den Glauben gelernt hat: "Was habe ich über Leben und Glauben gelernt? Wem bin ich dafür dankbar? Was habe ich selbst weiterzugeben?" 
Nebenbei: Das gottesdienstliche Aufschreiben von Dingen auf Zettel ist in den letzten Jahren in der Liturgiewissenschaft ein bisschen in Ungnade gefallen. Wir machen aber in der Gemeinde durchgehend die Erfahrung, dass Menschen ein Bedürfnis haben, etwas dazulassen und etwas weiterzugeben - allen voran die Generation der Ü70er, die so oft als Argument für traditionelle Gottesdienstgestaltung herhalten müssen. Im Kern geht es uns dabei außerdem in die Führung zum Gebet und damit um liturgisches Lernen:
Sharing: Auf dem Liedblatt steht die lapidare Anweisung: "Wer mag, liest etwas von seinem Zettel vor. Etwas, wofür wir danken. Etwas, worum wir bitten. Niemand muss. Aber wir beten gern. Dazwischen singen wir..." Zwei Handmikros werden zu diesem Zweck an den Tischen rumgereicht. Das klappt überraschend gut, je nach Fragestellung verschwimmen die Redeintentionen ein bisschen zwischen Mitteilung und Gebet, aber die Erfahrung ist, dass die Gemeinde das gut aushalten und mittragen und gestalten kann. 

ZU BEACHTEN

Nach zwei Versuchen ist es noch etwas früh, um hier handfeste Tipps zu geben. Aber ein paar Hinweise, wo wir selbst nachbessern wollen bzw. es nach dem ersten Gottesdienst schon getan haben: 
Das veränderte räumliche Setting bringt es mit sich, dass der_die liturgisch Verantwortliche und/oder Predigende seinen/ihren Platz neu suchen muss. Möglich ist, etwa die Predigt im Stehen am Platz zu halten - das setzt aber voraus, dass man nicht mit dem Rücken zu einigen Tischen steht. Andere Dinge funktionieren im Sitzen, etwa (in gut reformierter Tradition) die Gebete.
Moderative Ansagen müssen klar sein, damit die Gemeinde sich in dem fremden Ablauf und dem ungewohnten Setting leicht zurecht findet. Die unterschiedlichen Elemente des Gottesdienstes müssen zusammen gehalten werden, das setzt einiges an Vorüberlegen und eventuell auch an Ausprobieren voraus. Insbesondere beim Sharing muss die Ansage klar sein: Alle dürfen, niemand muss, es ist aber schon schön, wenn ein paar sich laut äußern. Das kennt unsere Gottesdienstgemeinde vom Bibliolog, ein bisschen Vorerfahrung mit dem Mit-Teilen eigener Sichtweisen und Erfahrungen ist also auf jeden Fall von Vorteil.
Die Technik muss vorher klar sein. Beim ersten Mal haben wir eine Viertelstunde rumprobiert, bis uns aufgefallen war, dass irgendjemand den ursprünglich bereitstehenden Topf gegen nicht-induktionsfähiges Kochgeschirr ausgetauscht hatte. Im Zweifelsfall: Magnet bereithalten, um das schnell kontrollieren zu können. Wenn man den richtigen Topf hat, reicht die Zeit auf jeden Fall, um die Zutaten weichzukochen. Es ist aber sinnvoll, jemanden auszugucken, der_die die Verantwortung für den Kochvorgang hat, damit man nicht während der Predigt die ganze Zeit zum Kochtopf schielen muss. 
Die Hilfstruppe beim vorbereitenden Schnibbeln braucht, wenn es sich hier nicht um ganz alte Hasen handelt, die sich in der Gemeindeküche zuhause fühlen und die Arbeitsabläufe kennen, irgendjemanden, der_die sie anleitet und neben den Aufgaben auch die Zeit im Blick hat. Das kann auch eine Möglichkeit sein, engagierte Gemeindeglieder an das Thema "Leitung" heranzuführen und ausprobieren zu lassen.
Das Kochen in der Kirche wurde von der Gemeinde durchgehend als sehr schön und stimmig und "richtig" empfunden - es kann aber Gemeinden geben, denen der Kirchraum insgesamt, vor allem aber der Altarraum heilig ist. Bei uns ist der Anblick von Tischen in der Kirche zwar nicht die Regel, aber auch nichts komplett Unbekanntes, außerdem übernachten alle Nase lang Konfis oder Kindergruppen in der Kirche. Wo der zu erwartende Widerstand gegen das Kochen in der Kirche so groß ist, dass man die ganze Zeit (und sei es unterschwellig) nur mit Apologetik beschäftigt ist, sollte man gut überlegen, ob man diese Gottesdienstform ausprobieren will bzw. ob das wirklich das ist, was die Gemeinde will oder braucht. Ähnliches gilt, wenn die Bestuhlung nicht flexibel genug ist - da wird es schnell zum Showkochen, und das sollte es zumindest nach unserem Konzept nicht sein. 

UNSER FAZIT

Wir erleben, dass die andere Gottesdienstzeit (Samstag, 17 Uhr) die Besucherstatistik mehr beeinflusst als das Setting des Gottesdienstes. Der Erntedankgottesdienst war in den letzten beiden Jahren in etwa so besucht wie ein leicht unterdurchschnittlich besuchter Sonntagsgottesdienst (40-50 Leute) - allerdings ist auch für weniger Leute Platz. Und: Es kommen andere Leute, das Durchschnittsalter ist deutlich jünger. Und: Die Rückmeldungen sind sehr positiv, für das nächste Jahr haben sich bereits mehrere zum Schnibbeln angemeldet. Auch im zweiten Jahr gab es schon mehrere mitgebrachte Kuchen. Für das nächste Mal wollen wir noch stärker überlegen, wie man Kinder besser einbinden oder wenigstens (für die Unter-Dreijährigen) altersgemäßer beschäftigen kann, und sei es mit einer Spielecke. Außerdem fangen wir eine halbe Stunde eher mit dem Schnibbeln an... Das Fazit ist jedenfalls: Wir machen auf jeden Fall weiter!

Paradoxe Interventionen. | Mt 5,38-42

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Eigentlich bin ich ganz anders – ich komme nur so selten dazu. Sagt Ödön von Horváth. Sagt auch Udo Lindenberg. Könnte ich ganz oft sagen, und Ihr und Sie vielleicht auch. Ich lebe ein Leben mit viel Würde. Und viel Könnte und Sollte und Müsste und Wollte. Eigentlich wollte ich heute die Welt retten… aber es soll ja regnen! Und eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu. 

Die gute Nachricht: Jetzt ist die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann? Siehe, jetzt ist die Zeit des Heils, schreibt Paulus. Es gibt in der ganzen Weltgeschichte immer nur eine bedeutsame Stunde – die Gegenwart. Schreibt Dietrich Bonhoeffer. Jetzt ist die Gelegenheit, sagt Jesus: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Und Jesus malt in der Bergpredigt Bilder davon, wie es sein könnte, wenn alles anders werden sollte könnte würde, wie es sein muss, damit es anders wird. Und das sind Bilder, die auf den ersten Blick verstoren – ich weiß nicht, wie Sie die Lesung gerade gehört haben? 

Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dein Gewand zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer nötigt, eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei. 

Wir sind im Laufe unserer Geschichte sehr unterschiedlich mit diesem Text umgegangen. Da gab es den, der gesagt hat: Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen. Da gab es die, die gesagt haben: Richtig so, Christinnen und Christen haben sich aus militärischen Aktionen rauszuhalten und keine Waffen anzufassen. Die waren kaum überraschend so lange in der Mehrheit, wie das Christentum in Rom noch nicht Staatsreligion war und Christen sowieso keinen Militärdienst geleistet haben. Da gibt es die, die genau hingucken (und die mit rechts und links mehr anfangen können als ich), die sagen: Moment – stellt euch das mal bildlich vor (liebe Kinder zuhause, bitte nicht nachmachen): Es geht hier um die rechte Backe. Ein Rechtshänder, und das waren auch in der Antike die Mehrheit, schlägt aber nicht auf die rechte, sondern auf die linke Backe. Ein Schlag auf die rechte Backe wird mit dem Handrücken ausgeführt und ist also nicht eine Ohrfeige im eigentlichen Sinne, sondern ein Schlag ins Gesicht, der Verachtung ausdrückt, der eher als Beleidigung gedacht ist. Was Jesus also eigentlich meint, ist, dass wir drüber stehen sollen, wenn uns jemand beleidigt oder mit Verachtung straft. 
Ich finde das klug und bedenkenswert, aber ich finde auch verbale Schläge manchmal schmerzhaft genug. Und ich möchte versuchen, Jesus zu verstehen ohne „eigentlich“, auf dass ja bekanntlich immer ein „aber“ folgt, das wiederum bekanntlich immer alles verneint, was vorher gesagt wurde. 

II. Jemand schlägt dich – und du forderst ihn quasi auf, das nochmal zu tun. Jemand will vor Gericht von einem Armen das Untergewand pfänden lassen – und der gibt ihm direkt noch den viel wertvolleren und vor allem wärmeren Mantel dazu. Und jemand zwingt einen anderen, eine Meile mit ihm zu gehen. Das konnten im römischen Reich zum Beispiel Beamte oder Militärs sein, die von der Zivilbevölkerung Weggeleit oder Proviant einfordern konnten. Und dieser andere sagt: Super, klar komme ich mit, aber warum nur eine Meile, wenn wir schon dabei sind – ich gehe gleich zwei mit. Das sind, bei Licht betrachtet, alles ziemlich verrückte Ideen. Und ich glaube, sie sind genauso gemeint. 


In der Psychotherapie, auch in der Seelsorge, gibt es die sogenannte paradoxe Intervention. Das sind Maßnahmen, die scheinbar genau das Gegenteil von dem verursachen, was man eigentlich erreichen will, aber dann genau dahin führen. Vielleicht ist Ihnen das schon einmal in Erziehungsratgebern begegnet: Wenn Ihr Kind sich partout weigert, den Broccoli zu essen und nur Nudeln will, dann machen Sie die klare Ansage: Du bekommst erst wieder Broccoli, wenn du alle deine Nudeln aufgegessen hast! Und staunen Sie, was sie für ein broccoligieriges Kind zuhause haben! 
Paradoxe Interventionen überraschen das Gegenüber, bringen es aus dem Konzept und sollen den Trotzkopf in uns wecken, der immer das Gegenteil von dem tun will, was andere von ihm verlangen. Vielleicht schlägt Jesus auch hier paradoxe Interventionen vor – Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben ihn so verstanden und damit großen Erfolg gehabt. Ich glaube aber, dass es Jesus nicht um psychologische Taschenspielertricks geht. Ich glaube, es geht ums Prinzip. 

Paradoxe Intervention – das könnte fast sowas wie Gottes Handschrift in der Lebensgeschichte Jesu sein. Das fängt ganz am Anfang an: Das Volk erwartet den Messias. Wunderrat, Ewig-Vater, Friede-Fürst – und Gottes Sohn kommt als kleines Kind in einem Stall abseits der Weltgeschichte zur Welt. Als es erwachsen geworden ist, geht ebendieses Kind auf verhasste Outsider zu und sagt: Heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein. Wenn er über den Himmel befragt wird, erzählt er von der Erde und vom Ackerbau. Und am Ende seines Lebens lässt sich Jesus verhaften, auspeitschen und umbringen – und verhilft gerade dadurch dem Leben zum Sieg. 

So verstehe ich diese Sätze aus der Bergpredigt. Als paradoxe Interventionen. Als Ratschläge, die völlig abseits von dem stehen, was wir sinnvoll, zielführend oder rechnerisch richtig finden würden. Es ist Ihnen ja vielleicht aufgefallen, dass wir diese Woche das Reformationsjubiläum gefeiert haben. Vor 500 Jahren hat Luther genau das gemacht, als er ein funktionierendes System angegriffen hat. Und der Ablasshandel war ein funktionierendes System – und aus psychologischer Sicht sogar eigentlich sehr sinnvoll: Wenn ich mein Seelenheil erkaufen kann, dann gibt mir das das gute Gefühl, dass ich mein Leben selbst in der Hand habe. Und warum sollte Gott anders funktionieren als der Rest der Welt? Was nichts kostet, ist nichts, jeder ist seines Glückes Schmied, und umsonst ist nur der Tod. Und Luther sagt: Lasst das Geld in der Tasche. Lasst das Schachern und das Feilschen und das Vorsorgen. Gottes Gnade wird in einer tränentreibenden Verschwendung ausgegossen, im Himmel gibt es keine doppelte Buchführung. Darum: Sündige tapfer! Hat Luther auch gesagt. Und: Ich bin frei in allen Dingen – und Jedermanns Knecht. Und in seiner Folge Nikolaus Herrmann: Gott wird der Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein! Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Und Christoph Lichtenberg sagt: Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders ist. Ich weiß aber, dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll. 

III. In den paradoxen Interventionen öffnen sich Räume. Wenn dich einer nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei. Geh mit ihm drei Kilometer statt anderthalb. Und guck zu, wie die Strecke sich ändert. Wie sich auf der zweiten Meile auf einmal ein Weg eröffnet, den keiner von euch geplant hat. Ihr müsst euch über das Ziel verständigen. Geht nebeneinander her, vielleicht schweigend. Ab dem dritten Kilometer ungefähr passen sich eure Schrittlängen einander an. Die Grenzen verschwimmen zwischen dem, der vorangeht und dem, der nachläuft. Vielleicht durchbricht irgendwann jemand das Schweigen, und Ihr kommt ins Gespräch. Vielleicht reicht auch einfach nur einer dem anderen den Schlauch mit dem Wasser, ist plötzlich eine Hand da, wenn einer stolpert, vielleicht braucht es weder Worte noch Gesten, weil miteinander gehen auch ohne das alles etwas mit Menschen machen kann. Interventionen eröffnen Räume, wo es anders wird. 

IV. Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen, hat Helmut Schmidt gesagt. Oder Karl Carstens. Oder wer auch immer. Und eigentlich haben sie Recht. Eigentlich. Aber ich glaube nicht, dass Jesus seine Beispiele hier als TO-DO-Liste gemeint hat, die man abhaken kann, um sich als besonders guter Christ zu fühlen. Ich glaube, dass manche Sätze für manche Leute gar nicht gedacht sind – es gibt Menschen, die beigebracht bekommen haben, Schläge einzustecken. Alles runterschlucken, nur nicht aufmucken, sich bespucken lassen, niemand in die Augen gucken. Vielleicht geht es einigen von Ihnen so. Und wissen Sie was? Ich glaube nicht, dass Sie mit dem Satz mit der rechten und der linken Backe gemeint sind. Die Berpredigt ist keine Anleitung zum Unglücklichsein, keine Liste zum Abhaken, sondern eine Einladung zum Weiterspinnen und zum Sehen, wie Gottes Reich die offenen Räume zu füllen beginnt. 

Wenn alle über einen lästern, sag was Nettes über ihn. 
Wenn dir jemand einen Vorwurf macht, gesteh ihm noch zwei-drei weitere Unzulänglichkeiten deinerseits. 
Wenn jemand ein Kompliment braucht, gib ihm zwei. Und ein Stück Schokolade. 
Wenn jemand dein Geld will, gib ihm das Handy gleich mit. 
Wenn dich jemand zwingt, ihm eine Stunde zuzuhören, schenke ihm auch eine zweite. 
Wenn Du kein Geld hast, lade jemanden zum Essen ein. 
Wenn Du jemanden auf den Tod nicht leiden kannst, dann bete für ihn. 

Nur Sie wissen, wie es weitergeht. 

Amen.

Der berühmte Fragebogen - abschiedliches Leben üben

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Vor ein paar Tagen hat die EKiR-Onlineredaktion einen Artikel geschrieben, in dem es, im weitesten Sinne, um Beerdigungsvorsorge und damit auch um Tod, Trauer und abschiedliches Leben generell geht (hier kann man den lesen). Und darum, wie damit individuell und kollektiv umgegangen wird. 

In dem Artikel ist von einem Fragebogen die Rede, die ich manchmal mit Gemeindegruppen ausfülle. "Wie stelle ich mir meine eigene Beerdigung vor?" ist eine Frage, die für Konfis einen anderen Sitz im Leben hat als für den Seniorenkreis, die aber in jedem Fall zu interessanten Gesprächen Anlass bietet. Wer das Ende plant, kommt nicht umhin, über das Davor nachzudenken, zu gewichten und zu entscheiden: Was soll bleiben, was geht mit mir, was hinterlasse ich? Für die juristischen Seiten dieser Frage, mittlerweile auch für die elektronischen, gibt es Daten- und sonstige Testamente. In Schweden bin ich in einem Praktikum auf das Weiße Archiv (vita arkivet gestoßen), ein Portal, wo man sein "spirituelles Testament" hinterlassen kann, so etwas wie ein "Drehbuch für den eigenen Tod" (Deutschlandfunk). Eine alte Dame aus der Gemeinde hatte einen Termin dafür mit meiner Mentorin gemacht, ich saß dabei und fand es mit 22 Jahren so mittelnachvollziehbar. Einerseits fand ich die Idee gut, vorzusorgen. Andererseits fand ich die Vorstellung, so abgeklärt über das eigene Ableben nachzudenken, befremdlich bis erschreckend. Mittlerweile bin ich lange genug an der Lebensgrenze unterwegs gewesen, um aus vollem Herze zu sagen: Das ist gut! Sich über die inhaltliche Seite der Bestattung Gedanken zu machen, kann so etwas wie ein spiritueller Kassensturz sein, weil man sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegt darüber, was trägt. Welche Bilder und Texte, welche Lieder und Gedanken. 

Deswegen nutze ich den Fragebogen auf zwei Arten: Einmal, um Menschen, die sich vielleicht alters- oder krankheitsbedingt sehr viel gedanklich mit dem eigenen Tod beschäftigen, aber deren Angehörige solche Gespräche kategorisch verweigern, einen Gesprächsraum zu bieten. Und die Möglichkeit, ihre Wünsche zu formulieren und festzuhalten. Und einmal, um mit Menschen oder Gruppen, die sich damit überhaupt noch nicht befasst haben, das Thema näher ranzuholen. Beides braucht Vertrautheit, Zeit und Raum. Die Tabuisierung des Todes bringt es mit sich, dass es vielleicht eine gewisse Wegstrecke miteinander braucht, um so etwas besprechen zu können. Die Form des Fragebogens, bei der ich in weiten Teilen dem schwedischen Original folge, hat dabei Vor- und Nachteile: Sie zwingt zur Klarheit. Und tut gleichzeitig so, als gäbe es nur die vorgeschlagenen Varianten. Man darf und muss also ein bisschen Freiheit mitbringen, und gleichzeitig das Wissen: Es geht um so viel mehr, als nur um die Beantwortung einiger Fragen. Deswegen, und weil ich hier keine pdfs hochladen kann, kommen hier einfach nur die Fragen, an einigen Stellen mit ein paar weiterführenden Fragen dort, wo erfahrungsgemäßg Gesprächsbedarf besteht. Außerdem sollte in dem Prozess auch klar werden, dass eine Bestattung nicht den Verstorbenen allein gehört, sondern auch eine seelsorgliche Funktion für die Angehörigen hat. Das ist vor allem dann wichtig, wenn jemand so einen Fragebogen ausgefüllt und Wünsche angemeldet hat, die die Angehörigen nicht erfüllen können oder wollen. Hier sind wir, auch, weil so ein "spirituelles Testament" keine juristische Bedeutung hat, als Pfarrerinnen und Pfarrer freier als die Bestattungsunternehmen - und haben auch die Aufgabe, die Fragen und/oder Schwierigkeiten, die wir mit bestimmten Wünschen sehen, offen anzusprechen. Deswegen sind manche Fragen so formuliert, wie sie nicht im Fragebogen stehen würden, aber Hintergründiges sichtbar machen und damit als Gesprächseinstiege dienen können.

Im Folgenden habe ich meine Wünsche für meine Bestattung aufgeschrieben. Sie sollen meinen Angehörigen und dem Pfarrer/der Pfarrerin eine Orientierung bieten und Hilfe sein, um Entscheidunge in meinem Sinne zu treffen. In den Fällen, in denen ich nichts notiert habe, sollen meine Angehörigen entscheiden, was sie für angemessen und hilfreich halten.

1. Wer soll meine Beerdigung organisieren? Wem vertraue ich meinen letzten Weg an?
2. Was will ich im Sarg tragen? Mein Lieblingskleid, einen bequemen Jogginganzug, ...?
3. Wie soll mein Sarg/meine Urne aussehen?
4. Sollen die, die das wollen, sich irgendwann am offenen Sarg verabschieden können? Warum/Warum nicht?
5. Welche Bestattungsform wünsche ich mir? Und warum? Was verbinde ich mit bestimmten Formen?
6. Wo will ich begraben werden?
7. Wer soll die Trauerfeier gestalten? Was an dieser Person macht sie für mich vertrauenswürdig?
8. Wer soll alles zur Trauerfeier eingeladen werden? Wen könnte meine Familie übersehen?
9. Habe ich bestimmte Vorstellungen über die Gestaltung meines Grabsteins? Will ich damit irgendetwas ausdrücken?
10. Welche Lieder sollen gesungen oder abgespielt werden? Was daran berührt mich?
11. Welche Bibelverse/Gedichte/Gedanken... sind mir besonders wichtig? Was bedeuten sie für mich?
12. Was ist mir sonst rund um meine eigene Trauerfeier wichtig? 
13. Was für Ideen habe ich für die Feier hinterher? Gibt es ein Restaurant, dass ich empfehlen kann?
14. Gibt es Anliegen oder Initiativen, die mir am Herzen liegen, und für die anlässlich meines Todes gespendet oder bei der Trauerfeier gesammelt werden könnte? 
15. Was soll die Trauerfeier für meine Angehörigen bedeuten, was wünsche ich mir für sie?
16. Welche positiven oder negativen Beerdigungserfahrungen habe ich gemacht? Gibt es "Dos" und "Donts"?
17. Was ist offen geblieben? 

Ich freue mich über Rückmeldungen und Erfahrungsberichte zum Fragebogen! Und würde mir wünschen, dass das nur ein Anfang einer Entwicklung ist, in der die Kirche die ars moriendi wiederentdeckt. War das Thema "Tod und Sterben"über mehrere Jahrzehnte gesamtgesellschaftlich irgendwo in eine Ecke abgeschoben, scheint sich momentan, mit einer Pluralisierung von Bestattungs- und Trauerkulturen und einer zunehmenden Medialisierung (und Digitalisierung) aller Lebensbereiche eine Trendwende abzuzeichnen. Wir haben in unserer Tradition unglaubliche Schätze, die abschiedliches Leben lehren, ohne den Tod zu beschönigen. Wir sitzen auf Jahrhunderten, teils Jahrtausenden von Erfahrungen mit der Gestaltung und Begleitung der letzten Wege, mit dem Versprachlichen von dem, was eigentlich unsagbar ist, wir haben Symbole und Riten, die vielleicht abgestaubt und behutsam aktualisiert werden müssen, die aber zukunftsfähig in jedem nur erdenklichen Sinne sein können. Und wir haben den Glauben auf den Sieg über den Tod und die Hoffnung auf das Kommen Gottes - das prädestiniert uns doch geradezu, hier zu Pionier_innen einer neuen Trauerkultur zu werden, die das gesamte Leben positiv und heilsam beeinflussen kann.


Tick-Tack-Oma und Adressbuch | Predigt über Dan 12,1b-3 am Ewigkeitssonntag

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Die Ticktack-Oma hatte so ein kleines Adressbuch. Beim Trauergespräch lag es auf dem Tisch, sonst hat es immer da gelegen, wo es hingehört: Neben dem Telefon, das noch ein eigenes Tischchen mit dazugehöriger Sitzbank hatte. Die Namen darin: Alle mit Bleistift reingeschrieben. Nach ihrem 90. Geburtstag hat sie es angeschafft, hat die Namen all derer, die noch lebten, übertragen. Es waren weniger als die, die sie rausgelassen hat. „Ich bin doch eine der Letzten“, hat sie gesagt, „und ich bin es leid, die Namen von denen, die ich überlebt habe, durchzustreichen und jedes Mal, wenn ich eine Postkarte schreiben will oder eine Nummer raussuche, darüber zu stolpern. Jetzt radiere ich sie aus.“ Dann hat sie gelacht. „Und wenn ich doch noch jemand Neues kennen lerne, ist genug Platz!“ 


Neunzigjährige haben oft diesen Blick auf Leben und Tod. Einige derer, deren Namen wir heute hier genannt haben, hatten schon lange gesagt: „Es ist doch gut. Es reicht mir mit dem Leben.“ Man guckt anders auf das Leben, wenn die Grenze langsam aus dem Nebel auftaucht. Man sortiert, gewichtet vielleicht nochmal neu: Das, was früher so wichtig war, verliert an Bedeutung. Und anderes wird unschätzbar wertvoll. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ 

Der Ewigkeitssonntag gehört den Grenzgängern. Denen, die die Grenze passiert haben, und denen, die auf der anderen Seite stehen geblieben sind und ihnen nachblicken. Am letzten Sonntag des Kirchenjahres, wenn die Tage kürzer und die Menschen dünnhäutig sind, versammeln wir uns und rücken zusammen. Wir teilen das Brot, das wir haben, miteinander, reichen es herum, Hände berühren sich, Blicke werden getauscht, kurz, flüchtig, ein leises „Danke“, ein etwas lauteres „Amen“, eine stille Träne. Wir hören Namen, die etwas in uns zum Klingen bringen: Schmerz. Trauer. Sehnsucht. Dankbarkeit. Erleichterung. Oder irgendetwas anderes, das nur wir fühlen und das wir niemandem verraten. Wir hören Namen wie Abkürzungen für ganze Lebensgeschichten. Manche Geschichten sind länger, andere kürzer. Manche zu kurz. Alle ausnahmslos so vielschichtig und tiefgründig, dass kein Roman der Welt sie ganz erzählen könnte. Wir hören Namen, die von Klingelschildern, aus Kundenkarteien, Telefonbüchern und Geburtstagskalendern verschwunden sind – oder bei denen wir es einfach noch nicht übers Herz gebracht haben, sie aus dem Handy zu löschen. 

Am Ewigkeitssonntag blättere ich in der Bibel und suche Trost, Hoffnung, Perspektive, und vielleicht auch eine Antwort auf die Frage: Was ist mit Erwin oder meinetwegen mit Tick-Tack-Oma, jetzt, wo sie tot sind? Ich suche – und finde. Im hinteren Teil des Alten Testaments, im zuletzt hinzugefügten Buch der Hebräischen Bibel, im Buch Daniel. Ganz am Ende lesen wir Visionen, für Menschen geschrieben sind, die an ihre Grenzen kommen. An die Grenzen des Ertragbaren, des Verstehbaren. Um sie herum wütet der Tyrann, sie werden geknechtet, verfolgt, unterdrückt. Sie klagen laut und mit Rech: Es kann doch nicht sein, dass das, was ist, alles gewesen sein soll. Es kann doch nicht sein, dass der Tod und seine weltlichen Handlanger das letzte Wort behalten. Ihnen wird ein Ausblick geschenkt, der über unsere Grenzen hinausführt: 

[Denn] es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. 

Wieder ein Buch. Ein Buch, in dem Namen verzeichnet sind. Nicht mit Bleistift – damit schreibt man im Himmel nicht. Gott schreibt auf wetterfestes Papier mit dokumentenechter Tinte, die auch unter Tränen nicht verläuft. Namen, die stehen bleiben. Die Lebensgeschichten in sich bergen im Buch des Lebens, das mit jeder Taufe ein neues Kapitel bekommt. „Ja, den Namen, den wir geben, schreib ins Lebensbuch zum Leben“, singen wir dann. 

Möglich, dass diese Vorstellung nicht lückenlos tröstlich ist, nicht auf den ersten Blick. Möglich, dass unser Gottesbild sich mit dem Bild vom Nikolaus vermischt, der mit weißem Bart und gerunzelter Stirn streng über den Rand seiner Brille guckt, den Zeigefinger in seinem goldenen Buch, das zwei Spalten hat: Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind? Der alles aufgeschrieben hat, wirklich alles, und bei dem man nicht weiß, ob er ein Geschenk oder die Rute rausholt. Vielleicht hat Daniel sich das so vorgestellt. Dass Gott doppelte Buchführung macht. Es klingt zumindest so: „Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande.“ Ich kann diesen Satz nicht einfach weglassen, aber ich möchte versuchen, ihn zu verstehen. Und vorsichtig weiterdenken. Die Worte sind geschrieben in einer Zeit, die gar nicht so anders ist als unsere eigene. Es gibt Menschen, die anderen Leid zufügen. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Es gibt Verfolgung und Mord, seelische und körperliche Vergewaltigung, häusliche Gewalt und sträfliche Vernachlässigung. Es gibt Opfer und Täter, freiwillig und unfreiwillig. 

Tick-Tack-Oma wusste das. Hat schnell umgeschaltet, wenn im Fernsehen etwas über die unmittelbaren Nachkriegsjahre kam, über das, was damals so gemacht wurde und über das man nicht spricht. Und hat, als die Demenz die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischte, manchmal leise und unzusammenhängend über die jüdische Familie mit dem Geschäft nebenan gesprochen und den Kopf geschüttelt und sich die Hand vors Gesicht gehalten, als wollte sie nicht, dass man sie ansieht. Ich weiß nicht, ob für Tick-Tack-Oma die Vorstellung ertragbar, ob es gerecht wäre, im Buch des Lebens auch die Namen derer zu lesen, die im Krieg oder kurz danach etwas in ihr kaputt gemacht haben. Und dass sie selbst, wenn Soll und Haben aufgerechnet würden, hart an der Grenze wäre. Wie alle anderen. Namen bergen Lebensgeschichte. 

Und so, wie manche ihren eigenen Namen kaum leiden mögen, bergen die Namen auch die Kapitel unserer Lebensgeschichten, die schwer ertragbar sind. Möglich, dass nicht jeder die Vorstellung mag, dass am Ende jeder Name laut aus dem Buch des Lebens vorgelesen wird, inklusive der ganzen peinlichen zweiten und dritten Vornamen nach irgendwelchen Verwandten, die man zu Lebzeiten, wo es nur ging, verschwiegen hat. 

Möglich, dass es selbst im Himmel nicht ohne doppelte Buchführung geht, um der Gerechtigkeit willen. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass dort so gerechnet wird, wie wir es gewohnt sind. Kurz gesagt: Weil Christus einen Strich durch die Rechnung macht. Auf der Soll-Seite. Weil Gott die Ewigkeit nicht ohne uns verbringen will und keine Freude hat an Plätzen, die beim großen Festmahl im Himmel leer bleiben. Er hat das Chaos in Welt verwandelt. Er kann auch unseren Namen einen neuen Klang geben. Kann und wird sie neu durchbuchstabieren und unsere Lebensgeschichten so erzählen, dass wir sie neu und anders hören. Wir sind hier an der absoluten Grenze all dessen, was Theologie und Glauben leisten können. Dorthin wagen wir uns am Ewigkeitssonntag. Halb verschüchtert, halb trotzig. Und lassen Gott nicht. Nicht ohne Hoffnung. Gesät werden Menschen in eine Welt voller Erniedrigung, Erhöhte stehen auf. Gesät werden Zerbrechliche, Menschen voller Kraft von Gott stehen auf. Nicht ohne Versprechen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. 

Irgendwann, wenn dermaleinst die Zeit in Rente gegangen ist, wacht Tick-Tack-Oma auf. Mit einem Mal hell wach, wie man nur mit einem Mal wach ist, wenn man seinen eigenen Namen hört. Und sie steht auf, wundert sich, wie leicht das geht, spürt weder „Knie“ noch „Rücken“, schüttelt sich den Staub aus den Kleidern und fühlt sich überhaupt blendend. Geht langsam in den Flur, hört von irgendwoher leise Musik. Ihr Blick fällt auf ein Telefontischchen, ordentlich, mit Sitzbank, und auf das riesige aufgeschlagene Buch darauf. Namen über Namen, alle feinsäuberlich notiert, mit Tinte, nicht mit Bleistift. „Das ist die Gästeliste“, sagt jemand hinter ihr. Gott ist aus der Küche gekommen und hat die Schürze noch umgebunden und die Ärmel hochgekrempelt. „Gästeliste? Für heute?“ fragt Tick-Tack-Oma, und Gott sagt: „Für ewig.“ Und wieder fällt ihr Blick auf die endlosen Reihen von Namen, manche persönlich bekannt, manche aus Funk und Fernsehen, andere fremd und gänzlich unbekannt. Und ihr eigener natürlich. „Und die kennst du alle?“ fragt sie skeptisch, und Gott strahlt: „Jede und jeden Einzelnen.“ 

Amen.

Eindrücke aus dem Gottesdienst...








Weinende Visionäre und großes Kino | Predigt über Offb 5 und BWV 62

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Aus dem Kantatengottesdienst in der Kölner Antoniterkirche.
 

GROSSES KINO 

 

Lehnen Sie sich zurück. Greifen Sie in Gedanken in die Tüte mit Popcorn, trinken Sie einen Schluck, was auch immer, denn: Sie erwartet großes Kino. Großes Ohrenkino gleich nach der Predigt mit der Bachkantate, und vorher schon großes Kino für Auge und Herz, ein bisschen auch für den Kopf, mit einem Text aus der Bibel, der es in sich hat. Bei dem es ums Ganze geht. Großes Kino halt, dabei weniger „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, eher „Armageddon“, auch nicht „der kleine Lord“. Am Anfang des Kirchenjahres blättern wir zum Ende der Bibel, schlagen die Offenbarung des Johannes auf. Ein Buch voller Rätsel, voller Bilder, voller Ausrufe- und mindestens so vielen Fragezeichen. Wir gucken dem Seher Johannes über die Schulter. Er bekommt das, was viele Menschen sich wünschen, worauf sie hoffen, wonach sie lautstark verlangen, wenn die Gegenwart zu schwer zu ertragen ist. Johannes bekommt Einblick in die Zukunft. Nicht in die nächste Woche, nicht auf den Rest seines eigenen Lebens, sondern in die Zukunft, die Gott für diese Welt vorgesehen hat. Großes Kino eben, keine Kaffeesatzleserei. Wir treten neben Johannes, als er in Gedanken im Thronsaal steht.  

Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? 


ZEIT DER GEHEIMNISSE – IST DA JEMAND? 

 

Advent ist die Zeit der Geheimnisse. Ein Kalender mit vierundzwanzig Türchen, jedes mit einem kleinen Geheimnis dahinter. Ein kurzer Blick auf verheißungsvoll raschelnde Pakete, bevor sie bis Heiligabend irgendwo verschwinden und in der Zwischenzeit aufgeregt rätseln lassen, was da wohl drin ist. Immerhin: Am Ende der Adventszeit werden wir es wissen. Die Türchen sind aufgemacht, Geheimnisse gelüftet und Pakete ausgepackt. Im himmlischen Thronsaal scheint die Lage anders zu sein. Da ist das Buch, eine kunstvoll gefaltete Rolle, von innen und außen beschriftet. Allem Anschein nach eine Urkunde göttlicher Herrschaft, und damit auch ein Dokument voller Wahrheit und Klarheit über die Zukunft der Welt. Nur eben: Versiegelt. Mit nicht nur einem, sondern gleich mit sieben Siegeln, und die mystische Zahlenspielerei macht deutlich: Dieser Code ist nur mit göttlicher Kraft und Autorität zu brechen. 

Einerseits finde ich das gut. Das mahnt zur Vorsicht bei Zukunftsprognosen und Kaffeesatzleserei aller Art. Die Zukunft liegt bei Gott, und da liegt sie gut. 

Und andererseits macht es mich ungeduldig. Mir geht es wie Johannes. Ich will lesen. Und wissen, wie es ausgeht. Nicht einmal im Detail, will nur wissen, dass es gut ausgeht. Wie wenn ich bei einem unerträglich spannenden Krimi verbotenerweise auf die letzten Seiten blättere, um zu sehen, wer am Ende noch alles am Leben ist. Wie Johannes auf der Insel Patmos, der aus dem Exil heraus sieht und hört, wie seine Schwestern und Brüder im Glauben von den Römern verfolgt und getötet werden. Spürt und weiß: Unfrieden herrscht auf der Erde, und ein gutes Ende ist kaum vorstellbar. Unfrieden herrscht auf der Erde, und Ungeduld sogar im Himmel, wenn ein starker Engel die heilige Stille durchbricht und ruft: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Ja, wer? Wer kann die Siegel aufbrechen, wer versteht die Geheimnisse dieser Welt, und wer kann eigentlich dafür sorgen, dass am Ende alles gut wird? Ist da überhaupt jemand? Ist da jemand, der mein Herz versteht? Und der mit mir bis ans Ende geht? Ist da jemand, der noch an mich glaubt? Ist da jemand? Ist da jemand? Der mir den Schatten von der Seele nimmt? Und mich sicher nach Hause bringt? Ist da jemand? Ist da jemand?-- Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. 

ES IST ZUM WEINEN 

 

Es ist doch zum Weinen. Dass da niemand ist, der dieses Buch öffnen kann. Dass da niemand ist, der weiß, wie es geht, wie es sein wird. Es ist doch zum Weinen, dass allem Anschein nach das Böse, das Tödliche, das Dumme, das Unfaire, das Lebensverachtende in der Welt den Sieg davonträgt. 
Es ist doch zum Weinen, dass wir bald drei Monate immer noch nicht wissen, wer die Regierung stellen wird, und ein Minister im Alleingang gegen den Willen von Millionen von Bürgern und gegen den Willen der Kanzlerin den Einsatz einer hoch umstrittenen Chemiekeule genehmigt. 
Es ist doch zum Weinen, dass mehr als siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Partei die drittmeisten Stimmen bekommt, die die Zeit zwischen 33 und 45 schönreden und vielleicht sogar in Teilen wiederholen will. 
Es ist doch zum Weinen. 
Auch all das, was es nicht in die Zeitung schafft. Gestern Nachmittag war ich bei der Andacht eines Kollegen mit seiner Konfirmandengruppe dabei. In der kleinen kalten Kapelle auf dem Altar das Bild eines Zwölfjährigen. Lukas. Er war in ihrer Konfigruppe. War. In der Nacht von Sonntag auf Montag ist er gestorben. Einfach so. Morgens nicht mehr aufgewacht. „Ich bin sprachlos“, sagte der Kollege, „ich bin sprachlos, auch, wenn ich gerade rede.“ Und wir haben Kerzen angezündet und geweint. Geweint wie jetzt gerade Menschen weinen, überall in der Welt, aus den verschiedensten Gründen. 


Wie Johannes im himmlischen Thronsaal weint, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun. Weint, bis ihm jemand die Hand auf die Schulter legt. 

Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; […]Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. 

GROSSES KINO, EIN UNERWARTETER HAUPTDARSTELLER – VARIATIONEN EINES THEMAS 

 

Mitten im Thronsaal ist der schon da, der die Siegel brechen und die Zukunft in die Hand nehmen kann. Ist schon da, aber kommt erst jetzt in den Blick. Drängt sich nicht vor, ruft nicht laut „hier“, aber lässt sich finden. Wie am Anfang, der kleine Lord in der Krippe auf Stroh, wie am vermeintlichen Ende am Kreuz, wie beim Sequel neben dem beiseite gerollten Stein über seinem leeren Grab. Wie beim großen Finale im himmlischen Thronsaal. Das, was Johannes hier sieht, ist bei Lichte betrachtet eigentlich gar nicht so neu. Glanz und Gloria beiseite lassend, erkennen wir Variationen eines Themas, erleben wir, was Menschen immer und überall erleben, wenn Gott sich sehen lässt: Es wird anders. Anders als gedacht, anders, als wir es machen würden. Und vielleicht kann und wird es gerade deswegen gut. Das Wort wird Fleisch in der gänzlich kitschbefreiten Ungastlichkeit eines Viehstalls – und macht die, an denen die Weltgeschichte meist vorbeigeht, zu Trägerinnen und Boten des Heils. Der König kommt in nieder’n Hüllen. Der, der die Rettung aller Welt bedeutet, behält seinen unmissverständlich jüdischen Stallgeruch. Das Lamm, auf dem Altar politischen Kalküls und menschlicher Irrtümer geopfert, ist stärker als alle irdischen Herrscher, die sich als brüllende Löwen inszenieren. Und sieben Hörner sind und bleiben mehr als die zwei Hörner aller Götterfiguren und angeglichen Heilsbringer, als der Kopfschmuck aller Teufel und Dämonen dieser Welt. 

ALLE JAHRE WIEDER 

 

Wirklich neu ist das nicht, was Johannes sieht. Tröstlich, ja, ohne Zweifel. Alles wird gut, und im Spannungsbogen der biblischen Geschichte dürfte das kaum überraschen. Alles wird gut. Am Ende einer Predigt am ersten Advent dürfte auch das kaum überraschen. Aber die mächtige Dynamik dieser Welt und ihrer Geheimnisse bringt es mit sich, dass wir es immer wieder neu hören müssen. Auch am ersten Advent hier in Köln können wir großes Kino gebrauchen, mit Bildern, die mächtiger sind als die Schreckensszenarien der Nachrichten, und brüchiger und deshalb wahrer als unsere heimelige Adventsromantik. Auch am ersten Advent gibt es Menschen, auch hier in der Kirche, die Grund haben zu weinen, zu fragen: „Ist da jemand?!“, und mit Ambrosius und Luther und Bach und den Sängerinnen und Sängern aus Rösrath zu rufen: Nun komm, der Heiden Heiland. Komm und nimm die Geschichte in die Hand. Komm und mach uns frei. Komm und streite und siege und richte uns auf. Komm. Wir müssen es neu gesagt bekommen, es uns neu sagen lassen. Und mit der Frage im Hinterkopf: „Ist da jemand?“ hören wir die Kantate des fünften Evangelisten als großes, klingendes, uns bis in die tiefsten Fasern berührendes und veränderndes: JA, AMEN! 


Du kleine Stadt... | Predigt in der Christvesper über Mi 5

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I. COMING HOME FOR CHRISTMAS 


Kurz vor Weihnachten: Autobahnen zu und Züge überfüllt.
Weihnachten geht es nach Hause.
Söhne und Töchter, die irgendwo in der weiten Welt studieren,
packen ihre Sachen zusammen und fahren ins Elternhaus.
Manche freuen sich darauf.
Auf vertraute Gerüche, 
auf das Lieblingsessen von früher, 
auf das Wiedersehen mit Freunden 
an diesem alljährlich felsenfest stehenden Kneipenabend. 
Andere freuen sich, wenn der Heimaturlaub wieder vorbei ist. 
Sind rausgewachsen. 
Aus dem Bett in ihrem ehemaligen Zimmer, 
aus den Tagesabläufen der Eltern, 
aus den Diskussionen, ob es denn – Vegetarier hin oder her – 
zu Weihnachten nicht doch ein Stückchen Gans sein darf. 



Kurz vor der ersten Weihnacht waren die Straßen auch zu und die Herbergen überfüllt. 
Vor der ersten Weihnacht ging es nach Hause. 
Aus anderen Gründen damals als heute 
- Es begab sich aber zu der Zeit, 
dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, 
dass alle Welt geschätzt würde. 
Und jeder ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. - 
aber vielleicht mit ganz ähnlichen Gedanken und Gefühlen. 

Für viele, die heute hier sind, heißt Weihnachten: Zurück nach Wuppertal. 
Für Maria und Josef hieß es: Zurück nach Bethlehem. 

 II. DU KLEINE STADT… 


O Bethlehem, du kleine Stadt, Dorf neben anderen Dörfern, im Bergland am Rande der Wüste. Ein paar Häuser, eine kleinere Synagoge, überall Zisternen, weil die Stadt noch nicht an die antike Wasserversorgung angeschlossen ist. Die Menschen in Bethlehem leben vom Ackerbau und von ihren Olivenbäumen, aber nicht von dem kleinen Goldrand der Stadtgeschichte: Aus Bethlehem stammt immerhin der legendäre König David. Aber das ist lange her. 

O Wuppertal, du kleine Stadt. Stadt neben anderen Städten, im Bergischen zwischen Rheinland und Westfalen. Es gibt, immerhin, eine Universität, ein Opern- und Schauspielhaus, die Schwebebahn, einen Bahnhof, der gerade aufgehübscht wird, und viele Staus, wenn die Stadt durch Baumaßnahmen auf der B7 oder der A46 wieder einmal so gut wie abgeschnitten ist. Die Menschen leben in Wuppertal leben gut oder schlecht von ihrer Arbeit, von Sozialhilfe oder von Luft und Liebe, aber nicht von den kleinen Goldrändern der Stadtgeschichte: Immerhin war hier eine der ersten Industrieregionen Deutschlands, immerhin gab es immer wieder Prominenz von Friedrich Engels über Johannes Rau bis Pina Bausch, immerhin wurde hier die Barmer Theologische Erklärung verfasst. Aber das ist lange her. 



 III. GOTT FÄNGT KLEIN AN – UND MACHT’S WIE IMMER 


Von Bethlehem hat damals niemand Großes erwartet. Von David auch nicht. Als jüngster von acht Söhnen bleibt ihm das Schafehüten, alle interessanten Tätigkeiten von den älteren, stärkeren Brüdern schon weggeschnappt, so wie wahrscheinlich auch die potenziellen Heiratskandidatinnen. Und trotzdem fällt die Wahl zum König nicht auf die ungleich hochglanzmagazingeeigneteren Brüder, sondern auf David. Die damals noch viel kleinere Stadt Bethlehem erlebt ihr Aschenputtelmärchen, bei dem Gott nicht zum ersten Mal zeigt, wie er so tickt: Der Mensch sieht, was vor Augen ist – Gott aber sieht das Herz an. Und unter diesem Blick Gottes wird das Kleine groß, das Unbedeutende wichtig, und das Vernachlässigte rückt vor in die erste Reihe. Die Letzten werden die ersten sein. Der Jüngste wird König und dereinst einen Riesen mit einer Steinschleuder besiegen. 

An Weihnachten kehrt Gott auch zurück. Nach Bethlehem, und zu sich selbst. Fängt klein an, ganz klein, unscheinbar und verletzlich. Und legt in diesem bescheidenen Anfang der Welt eine neue Zukunft in die Wiege. Vertraut diesen Anfang einer jungen Frau an, die vom Leben noch nicht viel gesehen hat, und einem jungen Mann, der am Liebsten das Weite suchen würde. Lässt sich bestaunen von Hirten mit speckiger Kleidung, schlechtem Ruf und grober Sprache. 
Und so sitzen heute hinter den Wuppertaler Fenstern junge Frauen und Männer in zerbrechlichen Beziehungen, gehen auf Wuppertaler Straßen Menschen, denen man nicht im Dunkeln begegnen will, und wissen vielleicht selbst nicht: Auch sie können es sein. Zeugen von Gottes Wundern und Träger seines Friedens und Geburtshelfer der Weihnachtsbotschaft. 

 IV. JERUSALEM UND BERLIN 


Der Erste, dem so ein Bild vorschwebte, war der Prophet Micha. Einer, den Gott in seine Richtung blicken ließ. In einer Zeit, in der große Teile seines Volkes im Exil waren, träumte er davon, dass sie nach Hause zurückkehren. Dass das Kriegführen verlernt und Waffen zu Werkzeugen umgeschmiedet würden. Dass Friede sei. Und dass dieser Friede von Bethlehem ausgehen würde. Weil er von der Hauptstadt Jerusalem nichts mehr erwartete, von ihren korrupten Beamten, ihrer schwerfälligen Politik und ihrem ausgebluteten Königshaus. So, wie heute in Wuppertal und anderswo Menschen von der Tagespolitik in Berlin oder Düsseldorf nichts mehr erwarten und sich entweder zurückziehen oder denen ihre Stimme geben, die am Lautesten schreien. Aber Micha war, bei aller beißenden Kritik an den Machthabenden, kein Wutbürger. Weil er ahnte: Wirklicher, dauerhafter Frieden wird nicht dadurch kommen, dass die Einen sich gegen die Anderen durchsetzen. Nicht dadurch, dass man ihn absichert und umzäunt. Der Friede von Bethlehem wird gewagt, gesucht – und empfangen. 

V. FRIEDE GABST DU SCHON, FRIEDEN MUSS NOCH WERDEN 


Wenn man heute in Bethlehem unterwegs ist, könnte man meinen: Das hat nicht geklappt. Die Stadt liegt mitten in einer der umstrittensten Gegenden der Welt. Vom restlichen Westjordanland ist sie durch eine Sperrmauer abgetrennt. Die Heiligen Drei Könige hätten heute gehörige Schwierigkeiten, mit ihren Geschenken zum Christkind vorzudringen, wahrscheinlich müssten sie stundenlang bei einem Checkpoint ausharren und ihre Pakete auf Sprengstoff untersuchen lassen. 

Wenn man heute in Wuppertal unterwegs ist, könnte man auch meinen: Das hat nicht geklappt. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander klafft, wenn kleine Säuglinge im Wald vergraben werden, wenn die Stadt den traurigen Rekord von 39 so genannten Angstorten hält. Und trotzdem. 

Trotzdem will ich daran glauben, dass Weihnachten etwas geändert hat und ändern wird und ändert. Auch in diesem Jahr. In Bethlehem. In Wuppertal und anderswo. Und dass der Blick zurück zur Krippe etwas verändert. 

Da stehen wir. 
Gucken zurück, auf die Krippe. 
Gucken verstohlen zur Seite, 
finden uns wieder neben Menschen, 
um wir vielleicht lieber einen großen Bogen machen würden. 
Und teilen doch das Wunder miteinander. 

Hier sitzen wir. 
Geben gleich das Friedenslicht weiter, 
Kerze für Kerze für Kerze. 
Reihen uns ein in eine Kette, 
die von der Geburtskirche in Bethlehem 
bis auf den Uellendahl reicht. 
Und die hier nicht zu Ende sein muss. 
So wie in rund zwanzig anderen Kirchen in der Stadt 
und drum herum. 
Gehen nach Hause – und mit jedem Menschen, 
dem Sie in den nächsten Tagen begegnen, 
haben Sie vielleicht, 
ohne es zu wissen, 
das Licht geteilt. 

Und für jeden Menschen, 
dem Sie in den nächsten Tagen begegnen, 
hat Gott ganz sicher in Bethlehem einen neuen Anfang gesetzt. 
Für den Penner am Döppersberg, 
für die junge Mutter auf der Gathe, 
für den alten Nachbarn am Weinberg. 
Und sogar und ganz sicher für den Menschen, 
der Ihnen aus dem Spiegel entgegenguckt. 

 VI. COMING HOME FOR CHRISTMAS II 


Weihnachten geht es nach Hause. 
Und wir kehren zurück. 
Zu den neuen Anfängen Gottes, 
der sich klein macht und unsere Anfänge heiligt. 
Auch die ganz kleinen, 
von denen niemand etwas erwartet. 
Auch im Heimaturlaub, 
ob er nun mit freudigem Herzklopfen 
oder mit Magenschmerzen absolviert wird. 
Wer unbequem im Bett im alten Kinderzimmer liegt, 
erinnere sich daran, dass man selbst in einer Krippe schlafen kann, 
wenn es sein muss. 

Wer nicht mehr hören kann, 
dass die Schwester schon zwei Kinder, 
der Cousin einen Job 
und der Nachbarsjunge eine eigene Praxis hat, 
denke an David und daran, 
dass die Letzten die Ersten sein werden. 

Und wer keinen Gänsebraten will, 
der isst keinen. 

Und plötzlich ist Weihnachten. 
O je. 
O ja. 
O nein. 
O doch.
Okay. 
O Gott. 
O du fröhliche. 
O Heiland, reiß die Himmel auf. 
Über Bethlehem, der kleinen Stadt. 
Und über Wuppertal. 
Und über uns. 
Und überhaupt 
und überall 
und über allem 
und allen: 
Friede auf Erden. 
Amen.

Wenn dein Kind dich morgen fragt...

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Preacher-Slam-inspirierter Wortbeitrag zum Eröffnungsabend der ZEIT-Konferenz "Die Zukunft der Religion" am 23. Februar in der Hamburger Hauptkirche St. Petri


Mein heutiger Beitrag zur interreligiösen Verständigung 

Hamburg. Steindamm, St. Georg, heute Nachmittag gegen 16 Uhr. Auf der Straße stehen Christen einer bestimmten Couleur und wollen missionieren. Muslime aus einem ähnlichen Milieu und mit selbiger Absicht gesellen sich dazu. Als ich aus dem Dönerladen komme, kommen zwei auf mich zu und werden fast handgreiflich darüber, wer mich als erstes bekehren darf. Beide sehen meinen dringenden Bedarf bestätigt, als ich meinen Beruf verrate. Es reicht, Pfarrer im Rheinland zu sein und damit in einer Kirche zu dienen, die nicht nur die Frauenordination, sondern auch die Trauung und Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften praktiziert. Ich so: "Okay... wenn euer Glaube gegen predigende Frauen und Schwule und Lesben ist, bin ich definitiv raus - ich kann mir den Himmel ohne sie überhaupt nicht vorstellen." Nacn zehn Minuten verabschieden wir uns voneinander, die beiden sind sich in fast rührend brüderlicher Weise absolut einig, dass ich auf jeden Fall in die Hölle komme... #truestory

Wenn dein Kind dich morgen fragt...

Ich soll etwas zum Abendland erzählen. Das fällt mir schwer, denn in der Bibel findet man, anders, als viele das gerne hätten, nichts darüber. Aber ich stolpere über etwas anderes, über eine alte Kirchentagslosung: Wenn dein Kind dich morgen fragt... (Dtn 6,20).

Wenn dein Kind dich morgen fragt nach diesem legendären Land, das einst im Meer versank - willst du ihm dann von Atlantis erzählen? Oder von Holland?! Willst du erzählen, wie ihr an Feiertagen nach Venlo zum Einkaufen oder Frikandelessen gefahren seid, und wenn dein Kind dann fragt: "Was sind denn Feiertage?!" - willst du dann erklären: "Das waren Tage, an denen man nicht arbeiten musste". Und willst du, dass dein Kind dann entgeistert fragt, ob wir denn damals nicht wussten, was ein Bruttoinlandsprodukt ist?

Und wenn dein Kind dich morgen fragt: "Papa, können wir ans Meer fahren?", willst du dann sagen: "Aber ja, Dortmund ist ja nicht weit, und der Strand ist sehr schön. Oder der Harz! Da hat man Berge und Meer. Der Harz ist wie Korsika!" Aber Korsika kennt ja schon keiner mehr... 

Und wenn dein Kind dich morgen fragt, ob das eigentlich wirklich so ganz plötzlich gekommen ist, das mit dem Klimawandel, willst du dann sagen: "Eigentlich wollte ich demonstrieren gehen, aber es gab da keine Parkplätze"? Oder: "Das Biofleisch war so teuer, 10 EUR das Pfund Mett, da hat man zur Happy Hour eine Shisha und zwei Cocktails für bekommen!"?

Wenn dein Kind dich morgen fragt, woher eigentlich die kleinen Kinder kommen, willst du dann anfangen von Bienchen und Blümchen, und wenn dein Kind dich dann verständnislos anguckt und fragt: "Bienchen? Blümchen? Was ist denn das?", willst du dann sagen: "Es war einmal..." und von Glyphosat anfangen und dann müde abwinken und es weiter youporn gucken lassen?

Und wenn dein Kind dich morgen fragt:"Papa, warum habt ihr eigentlich diese oder jene Haar- und Augenfarbe und dieses oder jenes Geschlecht für mich ausgesucht?" - willst du dann sagen: "Das war halt gerade im Angebot?"

Und wenn dein Kind dich morgen fragt: "Papa, ich habe mein bilinguales Abitur in der Tasche und einen Studienplatz für International Business, aber keine Haare am Sack - ich bin dreizehn! Ist das der Sinn des Lebens?", willst du ihm dann erzählen von geheimnisvollen Schulfächern wie Kunst, Musik, Sport, Reli oder Deutsch, von Freistunden, die ihr im Oberstufenraum abgehangen habt, von endlosen durchdiskutierten oder einfach nur durchsoffenen Nächten in Studentenkneipen, von Auslandssemestern komplett ohne Scheine, dafür aber mit Freunden fürs Leben und der einen oder anderen dekorativen Narbe in Haut und Herz? Und bist du sicher, dass dein Kind auch nur ein Wort versteht von dem, was du ihm da erzählst? 

Und wenn dein Kind dich morgen fragt: "Papa, wer war eigentlich Dietrich Bonhoeffer?", willst du dann sagen: "Das war ein Widerstandskämpfer im Dritten Reich..."? Und wenn dein Kind dann mit großen Augen fragt: "Widerstand... aber wogegen denn?", willst du dann nochmal anfangen und sagen: "Das war ein Pfarrer." Und wenn dein Kind dann fragt: "Was waren denn Pfarrer?", willst du dann sagen: "Das waren Leute, die in Kirchen saßen und darauf warteten, dass Leute reinkommen"? Und wenn dein Kind dann fragt, was denn Kirchen sind - willst du dann sagen: "Unten am Marktplatz steht eine, da, wo der Applestore drin ist"?

Wenn dein Kind dich morgen fragt, warum man unser Land eigentlich das Land der "Richter und Henker" nennt, willst du dann anfangen und sagen, das hätte was mit den Kommentarspalten im Internet zu tun, oder mit Germany's Next Topmodel? Und dann innehalten, weil es doch eigentlich "Tischler und Banker" heißen müsste, oder, nein, es heißt: "Dichter und Denker" - und willst du, dass dein Kind dann sagt: "Ah... Mario Barth und so, ne?"

Und wenn Du den Herrn Jesus fragst, was er eigentlich mit diesem "christlichen Abendland" zu tun hat, kannst du dann hören, wie es im Himmel leise kichert? Weißt du dann noch, dass es heißt: "Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid", und nicht: "Bitte ERST die Leute aussteigen lassen!"? Und dass er gesagt hat: "Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird nimmermehr dürsten", und nicht: "Draußen nur Kännnchen!" oder "Das Wasser des Lebens gibt's nur noch von Nestlé"? Und dass es immer noch "Karwoche" heißt, niemals "Kehrwoche"?

Wer weiß das schon... Aber wenn du ihn fragst - eins wirst du vielleicht hören: 

Wenn dein Kind dich morgen fragt - was willst du ihm erzählen? Das entscheidest du. Heute.

Und dann das. | Predigt über Judas. Und die anderen. Gründonnerstag 2018

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Sie haben so viel miteinander erlebt. 
Da war diese Hochzeit in Kana. 
Trinken, anerkennend nicken, den Abend lang werden lassen. 
Körbe voll mit Brot und Fischen durch eine Menschenmenge schleppen. 
Mit vollen Händen nach allen Seiten geben. 
Sauanstrengend und unglaublich berührend. 
Am Fuße eines grasigen Hügels liegen und ihn reden hören und wissend nicken und mit der Menge jubeln und manche Worte wie kleine Schatzkästchen in der Brust aufbewahren: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ 
Mit Geistern und Dämonen kämpfen und spielend leicht gewinnen. 
Den Goldstaub zwischen den eigenen Fingern ahnen, wenn sie segnend auf dem Kopf eines anderen liegen und Angst, Schwermut, sogar Krankheit vertreiben. 
Unter dem Jubel der Menge durch das große Stadttor einziehen, Palmzweigen ausweichen, lächeln und winken und lächeln und winken, die Gesänge der Massen im Ohr und im Herzen: Hosianna. Sauanstrengend, aber unglaublich berührend. 
Sie haben so viel miteinander erlebt. 
Und dann das. 

„Einer von euch wird mich verraten.“ 

Und nach einem kurzen Moment der Irritation richten sich alle Blicke auf den Einen. 

Judas Iskariot. Geboren um das Jahr Null. Gestorben um das Jahr 31 nach Christus. Der Beiname Iskariot leitet sich wahrscheinlich vom Hebräischen Isch-Kerijot ab, zu deutsch: Der Mann aus Kerijot, oder aber: Der Mann aus der Stadt, d. h. Jerusalem. Ein Judäer in einer Gruppe aus Galiläern. Ein Stadtmensch in einer Gruppe Dorfbewohner. Man merkt es, klar. An der Art, wie er sich hinsetzt und das Essen zum Mund führt. An den Wörtern, die er benutzt. Am Sprachklang. Man merkt es halt. An dem ungeübten Umgang mit Fischernetzen und Mühlsteinen – und an der Selbstverständlichkeit, mit der er über die Straßen in Jerusalem flaniert. An der Sicherheit im Gespräch mit anderen Stadtleuten, mit Hohenpriestern und Schriftgelehrten. Vielleicht fing es als Witz an, als Frotzelei unter Mannschaftskameraden: „Sicher, dass du nicht einer von denen bist?!“ Haha. Ein Lachen, ein Schulterklopfen. Vielleicht wurde das Lachen mit der Zeit angestrengter. Vielleicht hat Judas irgendwann gesagt: Gut. Dann ich eben einer von denen. Aber dann richtig. 

Judas Iskariot. Geboren um das Jahr Null. Gestorben um das Jahr 31, Suizid durch Erhängen. Der Beiname Iskariot leitet sich wahrscheinlich ab vom lateinischen sicarius, Dolch. Er weist ihn als Sikarier aus, als Dolchträger, als Mitglied einer Gruppe politischer Aktivisten, manche würden sagen Terroristen. Im ersten Jahrhundert kämpfen sie für die Befreiung Israels von den Römern. Ihre Dolche tragen sie unter dem Gewand, blitzschnell holen sie ihn heraus, um im Schutz großer Volksmengen Attentate auf Angehörige der verhassten Oberschicht zu verüben. In Jesus von Nazareth meint Judas, einen Bruder im Geiste zu erkennen. Einen, der den Traum von der großen Freiheit mitträumt. Als sich abzeichnet, dass Jesus sich nicht als revolutionärer Freiheitskämpfer versteht, wendet Judas sich enttäuscht ab und paktiert mit der Jerusalemer Obrigkeit: Gegen die symbolische Bezahlung von 30 Silberlingen liefert er Jesus von Nazareth den Behörden aus. Nach dem Schauprozess setzt der desillusionierte und von Schuld geplagte Aktivist seinem Leben selbst ein Ende. 

Judas Iskariot, geboren um das Jahr Null. Gestorben um das Jahr 31 unter ungeklärten, aber überaus spektakulären Umständen. Ein instabiler Charakter, aufbrausend, oberflächlich, mit schwieriger Vergangenheit. Früh fällt er negativ auf, man munkelt, er würde Geld aus der gemeinsamen Kasse der Jünger unterschlagen. Ein ideales Opfer für den Teufel. Nachdem er sich an Jesus in der Wüste die Zähne ausgebissen hat, versenkt er seine Krallen in Judas. Packt ihn an seinen Schwachstellen: An seiner Angst, an seiner Enttäuschung, an seiner Geldgier, an seinem Bedürfnis nach Sicherheit. Flüstert ihm leise die nächsten Schritte ins Ohr. Ein heimliches Treffen mit den Behörden, ein Beuten Silbermünzen wechselt den Besitzer. Von dem Geld kauft Judas ein Stück Land, was ihm als Jünger verwehrt gewesen war. Aber unrecht Tun gedeieht nicht: Kurz nach dem Landerwerb stürzt er auf seinem Acker und verstirbt qualvoll an inneren Verletzungen. An alten oder an jungen. Oder an beidem. 

Die biografischen Angaben über Judas gehen weit auseinander. Über dem Wikipedia-Artikel steht: „Dieser Artikel ist nicht genügend mit Belegen ausgestattet. Näheres auf unserer Diskussionsseite.“ Die Biografien gehen auseinander. Lebensgeschichten werden nie einfach so erzählt, sondern immer mit einem Hintergedanken: Dem Leben Sinn zu geben, den Einzelnen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Schon ganz früh gehen die Biografien auseinander, weil man erklären musste, was eigentlich gar nicht sein dürfte: Wie kann es sein, dass jemand die Seiten wechselt, der doch ganz nah bei Jesus war? Der all das miterlebt hat. Und wie kann es sein, dass Jesus das auch noch zulässt? Und welche Rolle spielt Gott eigentlich bei dem Ganzen? Fragen, die weit über Judas hinausgehen. Und vielleicht ist es auch falsch, zu schnell alles auf Judas zu schieben. Die Christenheit hat das sehr früh und sehr konsequent getan. So konsequent, dass bis heute kein deutsches Standesamt „Judas“ als Vornamen akzeptiert. Wohlgemerkt, dieselben Standesämter, die in den Vergangenen Jahren Namen wie Sexmus Ronny, Pumuckl, Tarzan, Winnetou, Pepsi-Carola, Chanel und Cinderella-Melodie akzeptiert haben, aber das nur am Rande. 

Vielleicht ist es falsch, alles zu schnell auf Judas zu schieben. In dem Moment, in dem Jesus sagt: „Einer von Euch wird mich verraten“, fragt jeder Einzelne aufgeregt: „Bin ich’s?!“ Allein die Frage zeigt mir, wie unsicher, wie aufgeladen die ganze Situation war. Wie wenig wir wissen, wie wir am nächsten Tag handeln werden. Wie wenig wir selbst uns vertrauen können. Ich hätte nicht gern dabeigesessen. Ich hätte nicht gewusst: Herr, bin ich’s? Werde ich irgendwann so tun, als ob ich ihn nicht kenne, so wie Petrus? Wäre ich am Kreuz weggelaufen, wie die Jünger? Hätte ich in der Konfrontation mit den römischen Soldaten alles, was ich von Jesus gelernt habe, über Bord geworfen und zum Schwert gegriffen? Hätte ich nach der Kreuzigung das Weite gesucht, wie die beiden Jünger, die sich nach Emmaus absetzen? 

Ich weiß es nicht. Und solange ich es nicht weiß, bleibt ein Rest Respekt vor Judas. Vielleicht auch Angst, Weil ich nicht weiß, ob nicht irgendwann, in irgendeiner schwierigen Situation, in irgendeiner Krise irgendeiner Beziehung, nicht der Verräter in mir die Oberhand gewinnt. Wenn ich von einem Freund enttäuscht bin. Wenn in die Ehe der Alltag einkehrt und andere Mütter plötzlich auch schöne Kinder bekommen. Wenn ich in einem Land leben würde, in dem Glauben gefährlich ist. 

Beim letzten Essen von Jesus mit seinen Jüngern, das zugleich auch das erste Abendmahl war, wird mit Händen greifbar, wie zerbrechlich die Gemeinschaft ist. Am Tag drauf werden Versprechen gebrochen wie am Abend zuvor das Brot. „Herr, bin ich’s?“ Der Kelch geht an niemandem vorbei. Und Jesus bleibt mittendrin sitzen. Hält die bröckelnde Gemeinschaft aus, hält zusammen, was noch zusammenzuhalten ist. Taucht mit dem, der ihn ausliefern wird, die Hand in die Schüssel. Zuckt nicht zurück, bleibt nah, bleibt da. Teilt mit allen Brot und Wein. Baut seine Kirche auf den, der in nicht einmal vierundzwanzig Stunden dreimal sagen wird: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Hält auch das aus. Und kehrt nach all dem wieder zurück, drei Tage später. Ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne die schmerzhafte Frage: „Warum?“ Nur mit dem heilenden Satz: „Friede sei mit euch.“ 

Judas wird das nicht mehr erleben. Für Judas gibt es in dieser Welt kein Ostern, keine Auferstehung, keine Möglichkeit, die Hände in die Wunden zu legen und zu erkennen und zu bekennen: „Mein Herr und mein Gott.“ Jesus steht wieder auf. Judas bleibt unten. Aber so wenig, wie wir wirklich erfassen, wirklich verstehen können, was ihn zum Verrat getrieben hat, und so wenig wir seine Rolle in dem Geschehen begreifen können, so wenig wissen wir auch über das, was dazwischen passiert. Judas Hoffnung bleibt der Karsamstag. 

Im Heidelberger Katechismus heißt es (44): „Warum steht im Glaubensbekenntnis ‚abgestiegen in die Hölle‘?“ Und er gibt die Antwort: „Damit wird mir zugesagt, dass ich selbst in meinen schwersten Anfechtungen gewiss sein darf, dass mein Herr Christus mich von der höllischen Angst und Pein erlöst hat, weil er auch an seiner Seele unaussprechliche Angst, Schmerzen und Schrecken am Kreuz und schon zuvor erlitten hat.“ 

Sie haben so viel miteinander erlebt. 
Auf langen staubigen Straßen miteinander gestritten. 
Gedacht, sie wüssten Bescheid. Und immer wieder erkannt, wie wenig sie wussten. 
Wollten Hütten bauen und endlich ein Zuhause finden, und durften es nicht. 
Haben mit Dämonen gekämpft und sind nur um Haaresbreite selbst davon gekommen. 
Wollten übers Wasser laufen und haben dabei kalte Füße bekommen. 
Wollten sich mit Schwert und dem eigenen Leben zwischen Jesus und die Soldaten stellen – und wurden zurückgepfiffen. 
Konnten oder wollten das Kreuz nicht tragen, den letzten Weg nicht mitgehen, die Hoffnung nicht über den Tod hinaus festhalten. 
Lachten halb höhnisch, halb genervt, als die Frauen vom leeren Grab erzählten. 

Und dann das. 

„Friede sei mit euch.“

Pastor Fritz und KarfreiT4g - Predigt mit Friedrich v. Bodelschwingh

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Die kursiven Partien stammen aus einer Karfreitagspredigt von Friedrich von Bodelschwingh d. J., abgedruckt in: Lebendig und frei. Predigten 1. Folge, Bielefeld ²1947, 92-99.

Karfreitag 1945. 30. März. 
Dresden brennt. 
Budapest ist befreit. 
Ebenso Limburg, Remagen, Wiesbaden und Mannheim. 
Hildesheim liegt in Trümmern. 

In der Zionskirche der Anstalt Bethel bei Bielefeld steigt Pastor Fritz auf die Kanzel. Ordnet seine Blätter, lässt den Blick über seine Gemeinde schweifen. Mitarbeitende, Ärzte, Pflegerinnen und natürlich Bewohnerinnen und Bewohner der von Bodelschwinghschen Anstalten, des Lebenswerks seines Vaters. Und sein eigenes. Viele kennt er mit Namen. Elfriede, die Mongoloide mit den sorgfältig geflochtenen Zöpfen. Heinrich, der Fallsüchtige, der nur mit Helm draußen herumlaufen darf. Magdalene, die Schwachsinnige, die am liebsten „Guten Abend, gute Nacht“ singt. Johannes, für den sie gar kein Etikett haben, der weder läuft noch spricht noch singt. Ein Großteil der Gemeinde: Lebensunwertes Leben in den Augen derer, die gerade den Krieg verlieren. 



Nun stehen wir im Geist unter Christi Kreuz. Still, ganz still stehen wir da. Das wilde Getümmel dieser Tage weicht für einen Augenblick zurück. Die weltgeschichtlichen Entscheidungen, die sich jetzt vollziehen, verlieren ihr Gewicht gegenüber der heilsgeschichtlichen Entscheidung, die auf Golgatha gefallen ist. Was in den sechs Stunden des Karfreitags geschah, das wirkt in alle Ewigkeit hinein. 

Karfreitag ist der Tag, an dem die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und damit zurechtgerückt werden. Gottes Sohn stirbt am Kreuz. Ein Heide, der römische Räuberhauptmann, erkennt ihn als den, der er ist und war und sein wird. Sechs Stunden auf dem Schädelberg sind entscheidender als sechs Jahre Krieg und zwölf Jahre NS-Diktatur. Das Tausendjährige Reich, das in weiten Teilen schon in Trümmern liegt, verblasst im Licht der Ewigkeit. Unter dem Kreuz wird als Schuld erkannt und benannt, was in den Naziblättern noch als Heldentaten gefeiert wird. 

Niemand kann das Geheimnis des Sterbens Jesu fassen, der nichts von eigener Schuld weiß. Bei uns ist alles am verkehrten Ort, bei ihm alles am rechten Platz. Dann fangen wir an, uns zu schämen. Wir empfangen, was unsere Taten wert sind. Diese Unterschrift dürfen wir gewiß auch unter das setzen, was wir in der Geschichte unserer Tage mit tiefem Schrecken erleben. Dabei denken wir nicht an die Schuld einzelner Menschen, nicht nur an die Schuld unseres Volkes, sondern wir denken zunächst an unsere eigene Schuld. Wieviel hat bei uns selbst, in unserer Bethelgemeinde, in der Christenheit unserer deutschen Heimat am verkehrten Platz gestanden! Nun rückt Gottes gewaltige Hand es zurecht. Wieviel ungeschicktes, liebloses, kaltes, eigenwilliges Handeln hat es bei uns, in unserer Bethelgemeinde, und in der ganzen Christenheit gegeben! Nun streicht Gottes Gericht das alles durch. Wir beugen uns unter sein Gericht. Auch wenn es unsere äußere und innere Existenz völlig zu zerschlagen droht. 

Friedrich von Bodelschwingh weiß, wovon er redet, wenn er von Schuld in seiner Bethelgemeinde spricht. Von eigener Schuld. Auch er hat sich anfangs täuschen lassen, hat ohne Not den Treueeid auf Hitler geschworen und 1936 einen Aufruf zu den Reichstagswahlen veröffentlicht. 1931 sagt er auf einem medizinischen Kongress Worte, die ihm wahrscheinlich selbst schon 1945 unmöglich schienen: „Ich würde den Mut haben, vorausgesetzt, dass alle Bedingungen gegeben und Schranken gezogen sind, hier im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern zu vollziehen, wenn ich für diesen Leib verantwortlich bin.“ Von 3.000 Bewohnerinnen und Bewohnern mit Behinderungen der Betheler Anstalten werden während des Dritten Reichs 1.700 zwangssterilisiert, mit Bodelschwinghs ausdrücklicher Billigung. 

Erst mit der Zeit beginnt er, sich von den Nazis zu distanzieren. So wie Bodelschwingh sich selbst im Schächer am Kreuz wiedererkennt, erkennt er in den Reaktionen der Menschen um Jesus herum auch die Reaktionen auf die Mitglieder seiner Betheler Zionsgemeinde wieder: 

Die Stimmen der vielen Leute, die des Weges vorüberkamen und nichts anderes sahen als den Allerverachtetsten und Unwertesten, voller Schmerzen und Krankheit. Da war eine Gestalt, die ihnen nicht gefallen konnte. 

 Als die Nazis ab 1940 mit der Aktion T4 im Stillen die „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ beginnen, wehrt sich von Bodelschwingh. Mit offenem Protest und mit zivilem Ungehorsam, der seiner Gemeinde das Leben rettet. Im Mai 1945 wird er sagen: „Wir wollen uns auch nicht mit dem Hinweis darauf decken, dass wir vieles nicht gewusst haben, was hinter den Stacheldrähten der Lager und in Polen und Russland geschehen ist.“ Bodelschwinghs Kollege und Mitaktivist, Pastor Braune, wurde für sein Engagement von der Gestapo in Schutzhaft gesteckt. Für das, was Bodelschwingh kurz vor Kriegsende von der Kanzel sagt, hätte er einige Jahre zuvor wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt werden können. Einigen seiner Amtsbrüder ist das passiert. 

Hätten die Nazis Sinn für Poesie gehabt, hätten sie ihn auch früher drankriegen können. 1927 schreibt Bodelschwingh ein Lied für Karfreitag. Aus unbekannten Gründen verschwindet es in der Schublade. Erst in dem Gottesdienst, dessen Predigt wir hier in Auszügen hören, wird es erstmals öffentlich gesungen. Aber es wird vorher in einer Kirchenzeitung abgedruckt, 1938, eine Woche vor dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. 

Nun gehören unsre Herzen ganz dem Mann von Golgatha. 

Das war ein zutiefst politischer Satz in einem System, das Anspruch auf den ganzen Menschen erhob, das darauf abzielte, die Bevölkerung von frühester Kindheit an mit der nationalsozialistischen Ideologie zu impfen, alle Lebensbereiche zu durchdringen. Das wird überall ein zutiefst politischer Satz sein, wo geistige und politische Strömungen, Regierungen oder Wirtschaftsunternehmen Anspruch auf den ganzen Menschen erheben. Überall dort, wo Paulus‘ Satz gesagt werden muss: „Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte.“ 

Tief und tiefer wir uns neigen 
vor dem Wunder, das geschah, 
als der Freie ward zum Knechte 
und der Größte ganz gering, 
als für Sünder der Gerechte 
in des Todes Rachen ging. 

Wer aufmerksam liest, wird auch 1938 erkennen können, dass das Kreuz Christi und das Hakenkreuz nicht zusammengehen. Auch, wenn im Jahr 1938 erschreckend viele Christinnen und Christen das dachten. Auch, wenn heute wieder Parteien, die aus ihrer Sympathie für das Dritte Reich keinen Hehl machen, das Kreuz als politisches Symbol besetzen wollen. Und wenn Politikerinnen und Politiker, die zweifellos keine Nazis sind, aber erschreckend kurzsichtig, versuchen, auf dieser Welle mitzuschwimmen. Als 1945 die evangelischen Kirchen das Stuttgarter Schuldbekenntnis verfassten, hätten sie vielleicht nicht gedacht, wie aktuell es 2018 sein würde: „Wir hoffen zu Gott, daß durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde.“ 

Der Freie wird zum Knecht, der Große wird gering. Der Gerechte wird gerichtet. Wo sonst die Arme zum deutschen Gruß emporschnellen, wird sich verbeugt. Tief und tiefer. An Karfreitag werden die Verhältnisse auf den Kopf und damit richtig gestellt. Will jemand der erste sein, der soll der letzte sein vor allen und aller Knecht, hat der gesagt, dessen Tod wir heute gedenken. Mit nationalsozialistischer Herrenmenschenideologie ist das unvereinbar. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet, heißt es bei Jesaja, in einem der Texte, die von Anfang an wichtig für die Deutung des Todes Jesu waren. 
Das steht auch quer zu unseren modernen Märchen von Selbstoptimierung, bei denen es allerletzten Endes um Selbstrechtfertigung und Selbstrettung geht. Unterm Kreuz wird klar, dass das nicht funktioniert. Beim Todesurteil über Jesus aus Nazareth haben die öffentliche Meinung, die politischen Entscheidungsträger und die religiöse Elite in beispielloser Einigkeit zusammengewirkt. An seinem Sterben wird deutlich, wie sehr die Welt zum Tod drängt und sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. 
So wird das Lied von Bodelschwingh, so wird sogar ein noch viel älteres und viel staubigeres Lied wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ zum Protestsong in der Welt der Fitness-Apps, Schönheits-OP's und Coachingschwemme. 

Doch ob tausend Todesnächte 
liegen über Golgatha, 
ob der Hölle Lügenmächte 
triumphieren fern und nah, 
dennoch dringt als Überwinder 
Christus durch des Sterbens Tor. 

Auch das so eine Strophe, die einen 1938 den Kopf hätte kosten können. Er hat es nie gesagt, aber man wird Bodelschwingh unterstellen können, dass er „der Höllen Lügenmächte“ sehr genau identifizieren konnte, als er ihnen sein trotziges „Dennoch“ entgegenstellte. Ein „Dennoch“, das nachhallt. Das mir Mut macht inmitten von Diskussionen um fake news und alternative Fakten. Die Wahrheit wird uns freimachen. 

Karfreitag 1945. 30. März. 
Dresden brennt. 
Budapest ist befreit. 
So wie Limburg, Remagen, Wiesbaden und Mannheim. 
Hildesheim liegt in Trümmern. 
In der Betheler Zionskirche ist Pastor Fritz am Ende seiner Predigt angelangt. Gleich wird sein Karfreitagslied zum ersten Mal gesungen, von einem vielstimmigen und sehr durchwürfelten Chor: Die unbeirrbar festen Soprane der Diakonissen, die zittrigen Tenöre der ältere Mitarbeiter, die in Teilen unverständlichen Laute der Bewohnerinnen und Bewohner, die sich freuen, wenn gesungen wird. Er lässt den Blick über seine Gemeinde schweifen. Viele sind da, weil er die Kurve gekriegt und sich widersetzt hat. Einige, die früher immer da waren, fehlen. Sind umgekommen bei den Luftangriffen auf die Anstalt vor wenigen Wochen, 58 insgesamt. 519 Mitglieder der Gemeinde werden im Krieg gefallen sein. In die grauen Busse nach Hadamar musste kein einziger einsteigen. Pastor Fritz ordnet seine Blätter. Die letzten Sätze gehen auch auswendig. Er hat sie bewusst einfach gehalten, in kurzen Sätzen, damit alle sie hören und verstehen. Auch Elfriede. Und Heinrich. Und Magdalene. Und Johannes. 

Wir wollen diese Botschaft des Karfreitags um so stiller hören, um so tiefer fassen, weil jetzt alle irdischen Türen nur in eine dunkle Zeit zu führen scheinen. Christus ist gestorben, damit wir heute nicht verzagen müssen. Christus ist gestorben, damit wir wissen: ER läßt uns nie allein, auch dann nicht, wenn unser Leben lauter Sterben wird. Scheinen unsere Wege völlig dunkel, dann gibt er uns die Gewißheit: Auch in der tiefsten Dunkelheit ist er bei uns. Mit mir, sagt er, mit mir. Überall, wo wir mit ihm sind und er mit uns, da ist auf dieser von Kampf und Leid erfüllten Erde ein Stück Himmelreich. Amen.

Gott treibt zwischen den Planken | Predigt über Joh 6,1-15

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Manche Geschichten werden mehrfach erzählt. Immer wieder. Manchmal kurz hintereinander, manchmal mit etwas Abstand nochmal. Ich habe gelernt: Wenn ich gleich abwinke und sage: Kenne ich schon, verpasse ich etwas. Übersehe die Bedeutung, die die Geschichte für die Erzählerin hat. Überhöre die kleinen Nuancen, die winzigen Details, in denen sich die Geschichte von Mal zu Mal unterscheidet. 

Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend zum Beispiel. Oder der Viertausend. Markus erzählt sie. Gleich zweimal. So wie Matthäus. Lukas erzählt sie auch. Und Johannes – wir haben seine Version gerade gehört. Sechsmal eine ähnliche Geschichte vom Sattwerden. Vom Endlich-mal-genug-Haben. Das spricht für die Bedeutung, die die Geschichte gehabt hat, damals, für die ersten Christinnen und Christen. Die bei Wundergeschichten nicht gleich unbequem auf ihren Stühlen hin und her gerutscht sind, weil sie nicht in ihr Weltbild passten. Denen herzlich egal war, wie genau das jetzt abgelaufen sein könnte. Sie kannten das Problem: Hunger. Mangel. Die Angst, am Ende des Tages hungrig nach Hause zu gehen und für ihre ebenso hungrige Familie nur ein Achselzucken übrig zu haben. Für sie zählte das Endergebnis, als Verheißung, als Anspruch, als Versprechen: Jesus macht satt. Gott macht satt. Nicht nur seelisch-geistlich – dafür ist wenig Platz, wenn der Magen sich vor Hunger windet. Sondern auch körperlich. Und Gott sorgt dafür, dass genug für alle da ist. Sogar mehr als genug. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren und einsam sind. Punkt. Oder Ausrufezeichen. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren und einsam sind! 

„Niemand soll ertrinken müssen!“ Das hat unser Präses Manfred Rekowski vor einigen Tagen gesagt in einem Videotagebuch von seiner Reise nach Malta. Er hat dort Seenotretter besucht. Sie kümmern sich um diejenigen, die fliehen. Vor Problemen, deren Wurzeln zum Teil in Europa liegen. Vor Kriegen, die sie nicht angezettelt haben und die mit Waffen unter anderem aus Deutschland ausgefochten werden. „Das Bildmaterial enthält belastende Sequenzen“, warnt die Website unserer Landeskirche: „Es zeugt von der Entdeckung zweier Toter und einer sterbenden Frau“ zwischen den Planken eines Schiffswracks. Es sind „unerträgliche“ Bilder, „Bilder zum Wegsehen“, sagt der Präses in diesem Video mit fahler Stimme in der kleinen Küche eines Rettungsdienstes. „Aber wir dürfen nicht wegsehen.“ Die Organisationen, die die Schiffbrüchigen retten, sind seit einigen Tagen beispiellos pauschaler und böswilliger Kritik ausgesetzt, unser Präses auch, unter anderem auf der Facebookpräsenz der Landeskirche. 

„Ich verachte diese menschenverachtende Heuchelei, die denen hilft, die ins Meer springen [...], es ist Gotteslästerung“, schreibt einer. „Die Kirche mischt sich in Sachen ein, die sie nichts angehen“ ein anderer. Von „elenden Gutmenschen“ eine dritte. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren oder ertrinken. Manchen Menschen hingegen scheint das egal zu sein. Oder zumindest scheinen sie es als notwendiges Übel in Kauf zu nehmen, weil man ja schließlich nicht allen helfen kann und weil sie meinen, man solle, so noch jemand anderes auf der Facebook-Seite, lieber erst den Menschen vor Ort helfen. 

Bei den Kommentaren dreht sich einem der Magen genauso um wie beim Video mit dem Leichenfund auf dem Mittelmeer. Ich möchte dahinter nicht nur Bösmenschentum und die Verrohung der Diskussionskultur vermuten. Ich ahne, dass es dabei auch um die Angst geht, dass es nicht genug ist. Die Angst, derer sich Populisten bedienen, wenn sie das Leid vor unserer Haustür gegen das Leid anderswo in der Welt ausspielen. Eine Angst, die auch Johannes in seiner Version der Geschichte zu Wort kommen lässt: 

Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme. 

Die Jünger sind so kurz davor, die Leute hungrig nach Hause zu schicken. Weil die Aufgabe unlösbar erscheint – der Jahreslohn eines Arbeiters würde nicht ausreichen, die Leute satt zu machen, und erst recht nicht die kleine Reisekasse, die die Jünger dabeihaben. Er hat ja vielleicht sogar Recht – wenn er die Rechnung ohne Gott macht. Wenn wir bei dem, was wir tun, immer nur von dem ausgehen, was wir haben oder leisten können. Dann entfalten die Zahlen ihre bedrohliche Eigendynamik, die alles lähmen und zum Stillstand bringen kann. 

Zahlen und ihre Magie. 1405 Ertrunkene im Mittelmeer – und eine unschätzbare Dunkelziffer. Vielleicht haben Sie in den letzten Tagen das auch anderswo spüren können, mit einer Zahl, die uns ebenso direkt betrifft: „Die Kirchen verlieren 2017 660.000 Mitglieder“, titelten die großen Zeitungen. Eine Zahl, die erschlägt, die lähmt, die das Gefühl geben kann: Es hat doch alles keinen Zweck! Aber auch eine Zahl, die unterschlägt, hinter der verborgen bleibt, dass die steigende Zahl der Taufen und der Aufnahmen die Kirchenaustritte überwiegt. Die meisten der 660.000 Menschen sind gestorben, nicht ausgetreten. Natürlich bleibt die Zahl groß und hoch. Aber wenn wir davon ausgehen, dass Gott mit dieser Kirche noch etwas vorhat, dann spielen solche Zahlen keine Rolle. 

Gott hat etwas vor. Das ist die Grundmelodie, die die Geschichte trägt, so wie Johannes sie erzählt. Der hier und dort Andeutungen einstreut, Erinnerungen an die Geschichte vom Exodus, von Israels Flucht aus Ägypten. Erinnerungen an erfrischende Wasserquellen in der unbarmherzig heißen Wüste. An Schutz vor übermächtigen Feinden. An die Erfahrung: Gott ist da. 

Wo ist Gott im Mittelmeer? Wenn ich Bilder sehe von Ertrunkenen, die zwischen Schiffstrümmern treiben, dann denke ich mit Eli Wiesel: Gott treibt zwischen den Planken. Aber ich glaube auch: Gott ist mit dabei auf den Rettungsschiffen. Christus wird in diesem Moment der Einlauf in den Hafen in Italien verweigert. Und Gott sorgt dafür, dass die Helferinnen auf den Schiffen nicht nur Tote im Wasser finden. So wie Gott dafür sorgt, dass der bescheidene Beitrag eines kleinen Jungen, fünf Brote und zwei Fische, ausreicht, um 5000 Menschen satt zu machen. Wer vom reichsten Teil der Welt aus Gott klagt, warum anderswo Menschen verhungern, muss sich fragen lassen, wo seine fünf Brote und zwei Fische sind, mit denen Jesus ein Wunder machen will. 

Manche Geschichten werden mehrfach erzählt. Weil sie Wichtiges zu sagen haben, etwas, das wir uns selbst sagen lassen müssen. Mehrfach. Immer wieder: Gott will nicht, dass Menschen verhungern, erfrieren, ertrinken oder vor Einsamkeit eingehen. Und Gott ist da. Meistens. 

Am Ende erzählt Johannes etwas, das nicht leicht zu hören ist: Jesus entzieht sich. Er stiehlt sich davon. Macht sich aus dem Staub, verschwindet in die Einsamkeit der Berge, als die Menge ihn gewaltsam zu etwas machen will, was er nicht sein kann. Zu einem Herrscher mit irdischen Zielen, irdischen Möglichkeiten, irdischen Plänen. 

Gott ist da, ja. Christus ist da, ja, überall, wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind. Aber er entzieht sich, wenn wir ihn vereinnahmen und missbrauchen wollen für unserer Ziele, unsere Zwecke, unsere Zwänge. München, 24. April 2018. Der frischgebackene Ministerpräsident verkündet seinen ersten Amtserlass: In jeder bayrischen Amtsstube soll ein Kreuz hängen. Ausdrücklich nicht als religiöses Symbol, sondern als Bekenntnis zu unserer bayrischen Identität. Im darauffolgenden Blitzlichtgewitter merkt niemand der Anwesenden, dass Jesus sich nach einem schmerzerfüllten Blick auf das eigenhändig von Söder aufgehangene Kreuz still und leise verabschiedet und davonstiehlt. Vielleicht geht er in die Berge, um allein zu sein und für uns zu beten, dass nicht alles so kommen möge, wie wir es heraufbeschwören. „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Vielleicht setzt er sich neben einen Bettler und macht aus einem Euro in dessen Hut genug für ein Abendessen. Vielleicht geht er in eine Flüchtlingsunterkunft und sorgt dafür, dass das kleine bisschen Kraft, dass die junge Mutter noch hat, ausreicht, um ihre Kinder heute Nacht in den Schlaf zu wiegen. Vielleicht heuert er auf der Lifeline an und sorgt dafür, dass die Puste der Retter, die eigentlich schon längst ausgegangen ist, noch reicht, um alle Lebenden aus dem Meer zu ziehen. Vielleicht lässt er sich ins Wasser sinken und treibt neben den Leblosen zwischen den Planken. Damit sie nicht allein sind. 

Manche Geschichten müssen erzählt werden. Immer und immer wieder. Amen. 


Gottes verlorenes Blau | Predigt am Israelsonntag über Sach 8

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GOTTES VERLOREN GEGANGENES BLAU


So spricht der HERR der Heerscharen: Es werden noch Völker kommen und Bewohner vieler Städte. Und die Bewohner der einen werden zur anderen gehen und sagen: Lasst uns hingehen, um das Angesicht des HERRN zu besänftigen und um den HERRN der Heerscharen zu suchen! Auch ich will gehen! Und viele Völker und mächtige Nationen werden kommen, um den HERRN der Heerscharen in Jerusalem zu suchen und um das Angesicht des HERRN zu besänftigen.

Die Sonne steht hoch über dem Platz vor der Klagemauer. Die Touristen nehmen sich eine kostenlose weiße Kippa aus den bereitstehenden Kästen, die Juden haben ihre eigene dabei, wenn sie sie nicht schon aufhaben. Der Ort ist heilig. Gott wohnt in den Ruinen, heißt es, und so fließen beim Anblick der mächtigen, von Rissen durchfurchten Sandsteinmauer die Ehrfurcht vor Gottes Nahsein und die Trauer über den zweimal zerstörten Tempel ineinander. Wie überall in Jerusalem, wie eigentlich immer im Judentum sind Dank und Klage nur einen Herzschlag voneinander entfernt. Manche legen sich ihren Tallit an, den blauweißen Gebetsmantel, an den die blauweiße Flagge Israels erinnert. Dann treten sie an die Mauer und legen die Stirn an den heißen Sandstein, zwischen den Rissen und Ritzen, in die tausende und abertausende kleiner Zettel gesteckt sind. Gebete, Wünsche, Segenssprüche. Lautlos beten sie: Barukh atah Adonaj, Eloheinu, v'Elohei Awotenu, Elohei Awraham, Elohei Jizhak, vElohei Ja'akow. - Gelobt seist du, Ewiger, unser G'tt und G'tt unserer Väter, G'tt Abrahams, G'tt Isaaks und G'tt Jakobs.

Bei jeder kleinen Bewegung zittern die Tzitziyot, die weißen, geknoteten Fäden an den Ecken des Gebetsmantels. Früher, vor 2000 Jahren, waren sie blau. Aber mit der Zerstörung des zweiten Tempels ist das Wissen verlorengegangen, welches Blau dafür verwendet wurde. Bis heute weiß man es nicht. Und so erinnern die weißen Fäden an Gottes verlorengegangenes Blau. So wie wir uns heute am Israelsonntag an Wissen über unsere Herkunft erinnern, das in der Kirche lange verloren gegangen war, das unsere Väter und Vätersväter vergessen, verdrängt oder verleugnet haben.

ZIZIYOT – GOTTES ERINNERUNGSANKER


Vier geknotete Fäden, früher blau, heute weiß, an jeder Ecke des Gebetsmantels. Planvoll angebracht auf Anweisung von ganz oben. Und der Herr sprach zu Mose: Rede mit den Israeliten und sprich zu ihnen, dass sie und ihre Nachkommen sich Quasten machen an den Zipfeln ihrer Kleider und blaue Schnüre an die Quasten der Zipfel tun. Und dazu sollen die Quasten euch dienen: sooft ihr sie anseht, sollt ihr an alle Gebote des Herrn denken und sie tun. Die Fäden sind Erinnerungsanker Gottes. Hilfsmittel, die dafür sorgen, dass Gott im Klein-Klein des Alltags nicht vergessen wird. Stolpersteine auf dem Weg, die zum Stehenbleiben auffordern. Zum Innehalten, während der Tag weiter fließt. Einmal durchatmen. Die Augen vom Boden heben und den Blick nach oben riskieren. Im Blau des Himmels eine Welt dahinter erahnen und spüren: Es macht einen Unterschied, ob man glaubt oder nicht. Es spielt eine Rolle. Es ändert das Leben. Es erinnert an Gottes Spielregeln für eine friedliche Welt: Brich mit den Hungrigen dein Brot. So einer nackt ist, dann kleide ihn. Und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus. 

Menschen brauchen solche Erinnerungsanker Gottes. Zu keiner Zeit, an keinem Ort der Welt ist Glauben nur einfach oder selbstverständlich gewesen. Immer und immer wieder überspült die Brandung des Alltags die guten Vorsätze: Ich wollte ja eigentlich öfter beten oder in die Kirche gehen. Sie kennen das. Hierzulande erfüllen die Kirchenglocken diese Funktion. Sie sagen nicht nur die Zeit an, sondern rufen zum Gebet. Zum kurzen Innehalten, zum Stillwerden und in den Himmel Hineinspüren, bis der letzte Glockenschlag verklungen ist. Während wir hier in der Kirche das Unservater beten, läutet draußen die Glocke und lädt auch die Menschen, die nicht hier sind, dazu ein, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Einzustimmen in den Chor aus unzähligen Stimmen und Sprachen, in Gedanken einen kleinen Zettel für Gott in den Riss in der Mauer zu stecken mit einem Namen, einer Bitte, einem Dank. Auch in unseren Kalender sind solche Erinnerungsanker eingestreut, Feiertage, an denen im Laufe des Jahres Gottes Geschichte mit uns durchbuchstabiert wird und wichtige Themen in Erinnerung gerufen werden, vom Advent über Weihnachten, Passionszeit, Ostern, Pfingsten, Himmelfahrt bis hin zum Totensonntag. Und mittendrin im Sommerloch der Israelsonntag, der seit knapp vierzig Jahren an etwas erinnert, über das unsere traditionellen Glaubensbekenntnisse schweigen: Gott ist in Israel zur Welt gekommen. Wir brauchen Erinnerungsanker. Und diesen ganz besonders.  

So spricht der HERR der Heerscharen: In jenen Tagen, da werden zehn Männer zugreifen aus allen Sprachen der Nationen, sie ergreifen den Saum eines Judäers und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist bei euch! 

GLAUBEN AM ROCKZIPFEL LERNEN 


Wir lernen Glauben durch andere. Von anderen. Mit anderen. Bei Manchen sind das die Eltern, die vor dem Essen oder Schlafengehen ein Gebet sprechen. Bei Manchen die Oma, die in jedes Brot vor dem Anschneiden ein kleines Kreuz ritzt. Wieder andere durch die Lieder geistlicher Dichter, die das in Worte fassen, was sie selbst spüren oder ahnen, aber nicht so richtig beschreiben können. Der überwiegende Teil aller Worte in diesem Gottesdienst stammt nicht von uns selbst, sondern aus Formulierungen, die sich seit Jahrhunderten, zum Teil Jahrtausenden bewährt haben, die tragen und sicherlich auch herausfordern. Wir lernen Glauben am Rockzipfel. Auch, wenn wir das vielleicht gar nicht wollen. An jemandes Rockzipfel zu hängen, das klingt unselbständig und ängstlich. Und das kann es sein, auch im Glauben, wenn man sich krampfhaft an alten Zöpfen festklammert, als gelte es das Leben. Und unsere Kirche hätte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt, wenn nicht hier und dort mutige Männer und Frauen die alten Zöpfe losgelassen hätten. Aber in den allermeisten Fällen haben sie dann einen anderen Faden aufgenommen, der irgendwann schon einmal da war und vergessen worden ist, und haben daran angeknüpft. Als Luther von der Rechtfertigung allein aus Glauben sprach, konnte er das aufnehmen, was Augustin und vor ihm schon Paulus gesagt hatte. Als Theologinnen im letzten Jahrhundert begannen, spezifisch weibliche Perspektiven auf Gott freizulegen, konnten sie an Frauen und ihre vergessenen Geschichten anknüpfen, von Eva über Miriam, Deborah, Maria und Elisabeth bis hin zu Lydia und Junia. So wurden im Lauf der Zeit immer wieder verlorengegangene Farben Gottes neu entdeckt und in die Zipfel am Saum des Mantels eingewoben und verknotet. Und von einem Zipfel kommen wir nicht los, wenn wir uns weiter Christinnen und Christen nennen wollen.

JESU GEBETSMANTEL


Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren den Blutfluss hatte, trat von hinten an Jesus heran und berührte den Saum seines Gewandes. Denn sie sprach bei sich selbst: Wenn ich nur sein Gewand berühre, so werde ich gesund. Jesus trägt einen jüdischen Gebetsmantel. Hat ihn nie wirklich abgelegt. Die Frau berührt nicht einfach den Saum, sondern greift nach einem der geknoteten Fäden, in dem noch das Blau, das verlorengegangen ist, schimmert. Hält sich daran fest. Und jeder Goj, jeder Nicht-Jude, der sich an Christus festhält, der zu ihm sagt: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“, spricht auch nach, was Sacharja den Völkern in den Mund legt: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist bei euch. 

WESTERN WALL REVISITED 


Die Sonne ist hinter Felsendom, Goldkuppel und Klagemauer gewandert. Der Vorplatz liegt im Schatten, aber immer noch drängen Leute nach, Juden und Nicht-Juden. Hinter den Militärkontrollen sieht man schnell, wer Tourist ist und wer hier das Hausrecht hat. Die einen ziehen ihre mitgebrachte Kippa auf, wenn sie nicht schon eine tragen, waschen sich an den vorgesehenen Wasserstellen, legen ihren Gebetsmantel um, treten vor die Mauer und legen die Stirn an den Sandstein, der noch die Hitze des Tages gespeichert hat. Die anderen treten erst unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, dann gucken sie, wie Juden es machen, und tun es ihnen gleich. Wir haben gehört: Gott ist bei euch. Amen.

Gefährlicher Glaube | Predigt über Apg 9 und Mendelssohns "Paulus"

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Gottesdienst unter Mitwirkung der Kantorei Dreiklang e. V., die Chorstücke und Choräle aus Mendelssohns Paulus sang. Das ganze Oratorium gibt es am 16. September zu hören! Außerdem wurde im Gottesdienst der Sohn zweier junger Leute aus Iran getauft, die wegen ihres Glaubens flüchten mussten und in unserer Gemeinde eine Heimat gefunden haben. Die Predigt wich in manchen Punkten vom Manuskript ab - es gilt halt das gesprochene Wort...

Drei Geschichten verschränken sich heute in diesem Gottesdienst. Drei Geschichten von Menschen, die Christinnen und Christen werden, die es nicht quasi von Geburt an sind, die nicht mehr oder weniger hineingeboren werden in eine Gemeinde, sondern für die sich irgendwann im Laufe ihres Lebens etwas verändert. Drei Geschichten – und eigentlich sind es noch mehr. 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/86/Niccol%C3%B2_dell%27_Abbate_002.jpg
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Da ist Saulus, der sprichwörtlich zum Paulus wird. Der seine Karriere beginnt als gnadenloser Verfolger der noch jungen christlichen Gemeinde und dann nach einem umwerfenden Erlebnis auf der Straße nach Damaskus zum Apostel wird, den seine Reisen bis an die Enden der damals bekannten Welt und darüber hinaus führen. 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/38/Felix_Mendelssohn_Bartholdy.jpg
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Da ist Felix, Sohn der bedeutenden und wohlhabenden jüdischen Familie Mendelssohn, Enkel des bedeutenden jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn. „Ein Judensohn, aber kein Jude“, so soll Goethe über ihn gesagt haben. Felix wird nicht jüdisch erzogen, sondern 1816, im Alter von sieben Jahren, getauft. Ab diesem Zeitpunkt nutzt die Familie den „christlichen“ zweiten Nachnamen Bartholdy. Mit Mitte Zwanzig beginnt Felix mit den Arbeiten am „Paulus“, einem großen Oratorium, das seinen Ruf als Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik festigt. 

Da sind F. und N. Die, als Muslime aufgewachsen, auf verschiedenen Wegen schon in ihrer Heimat im Iran von Jesus Christus hören. Im Iran, wo das Christentum eigentlich eine längere Geschichte als der Islam hat, aber nur unter einem Prozent der Bevölkerung Christinnen und Christen sind, ist das keine ungefährliche Angelegenheit: Zwar werden ihnen einige Rechte zugesprochen, der Übertritt zum Christentum ist aber nur erlaubt, wenn die Eltern auch Christen sind. „In vielen Kirchen sind sonntags Polizisten in Zivil unterwegs, die sehr genau gucken, wer da alles den Gottesdienst besucht und getauft wird. Besteht ein Verdacht auf Mission, ist der Pastor sehr schnell im Gefängnis und die Kirche geschlossen“, das hast du, N., einmal für den Gemeindebrief erzählt. Auf verschlungenen Wegen lernen sie sich in Deutschland kennen und lieben, landen in Wuppertal und, darüber freuen wir uns sehr, in unserer Gemeinde. Und bekommen den kleinen P., der heute getauft wird. 

Drei Geschichten, die in diesem Gottesdienst ineinander fließen. Und viele mehr kommen dazu – wir alle haben unsere eigene Geschichte mit Gott, die wenigsten wahrscheinlich bruchlos und gerade. Vielleicht können die wenigsten von uns so einen klaren Punkt benennen, an dem man sagen könnte: Dann und dann war es soweit. Ich kann das nicht. Ich kann nicht diesen einen Punkt festmachen und sagen: Hier hat mein Glaube angefangen. Ich kann mich aber an Zeiten erinnern, in denen ich dachte: Das ist alles nichts. In denen ich das Gefühl hatte, allein zu sein unter einem weiten Himmel, der kein Geheimnis birgt hinter Sonne, Mond und Sternen außer der kalten Unendlichkeit des Alls oder in denen ich dachte: Wenn es Gott gibt, dann weiß ich gerade nicht, ob ich ihn mag. Oder brauche. Oder will. Und ich kann Punkte benennen, an denen wir uns wiedergefunden haben. Man wird nicht fertig mit dem Glauben. 

Felix Mendelssohn Bartholdy wird auch kaum fertig mit seinem Paulus. Er feilt über Jahre daran. Verändert die Struktur, verwirft bereits geschriebene Musikstücke, komponiert Neues, setzt die Teile anders zusammen. Streitet sich mit Zeitgenossen, die sagen: Über Paulus kann man kein Oratorium schreiben – wie soll die Musik, die so unwiderstehlich das Gefühl anspricht, diesen verkopften Denker beschreiben können? Sein Vater Abraham begleitet die Arbeit an der Partitur eng bis zu seinem Tod. In Briefen ermutigt er Felix zur Aufnahme traditioneller Elemente evangelischer Kirchenmusik, um seine protestantische Identität zu beweisen. Die Arbeit am Paulus wird so zur Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Wann immer Felix ein Musikstück nur mit seinem jüdischen Nachnamen Mendelssohn unterschreibt, ermahnt ihn sein Vater, doch lieber den christlichen Nachnamen Bartholdy zu benutzen, denn, so schreibt er mehrfach: „Es wird ebensowenig jemals einen christlichen Mendelssohn geben wie einen jüdischen Konfuzius.“ Wahrscheinlich treibt Abraham Mendelssohn Bartholdy die Ahnung oder die Erfahrung, dass seine Familie immer unter Verdacht stehen wird, immer beweisen muss, dass sie die besseren Christen sind. Dass sie es ernst meinen. So, wie viele Menschen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, immer wieder beweisen müssen, dass sie die besseren Deutschen sind. Gerade in der Entstehungszeit des Paulus ist die Familie Mendelssohn Bartholdy antisemitischen Vorurteilen und Kampagnen ausgesetzt, einen Höhepunkt erreicht das mit der Schmähschrift Richard Wagners, Das Judenthum in der Musik, mit dem er Mendelssohns Ansehen nachhaltig beschädigt.  Felix wird das zum Glück nicht mehr selbst erleben. 

Wie es ist, wenn Leute sagen: „Du bist doch gar kein Christ“, das hast du auch erlebt, N. Wir haben beide mit deiner Anwältin und einem Gott sei Dank kompetenten Übersetzer im Anhörungszimmer gesessen und immer fassungsloser den immer abstruseren Fragen der Sachbearbeiterin zugehört, mit der sie prüfen wollte, ob Du denn wirklich Christ bist. Ich möchte sie hier nicht wiederholen, aber ich zitiere ein paar Fragen und Aussagen von Mitarbeitenden des Bundesamtes für Migration, die in einigen Zeitungen veröffentlicht worden sind – Sie können ja überlegen, ob Ihnen eine Antwort eingefallen wäre: 

„Was ist die weltliche Hauptstadt des christlichen Glaubens?" 
„Sie kennen doch bestimmt das Gleichnis vom verlorenen Sohn – wie hießen die beiden Söhne?“ 
„Warum haben Sie die Bibel nicht vollständig gelesen?“ 
„Warum tragen Sie kein Kreuz?“ Oder, als Variante: „Warum tragen Sie ein Kreuz, wenn Sie evangelisch sind?“ 
„Martin Luther ist eine wichtige Person im Evangelium. Wie ist er gestorben?“ 

Immer wieder werden Anträge abgelehnt mit der Begründung: Es zwingt Sie doch niemand, Ihren Glauben öffentlich zu bekennen, Sie sind ja selber schuld! N., du hast selbst einmal gesagt: „Ich hatte ein gutes Leben im Iran. Mehrere Leute haben mir geraten, nach außen als Moslem zu leben und mein Christentum für mich zu behalten, aber das wäre nicht gegangen. Ich kann doch nicht über das schweigen, was mich so fasziniert und bewegt – Jesus hat auch gesagt, dass wir unser Licht nicht irgendwo verstecken sollen.“ 

Auch Paulus sieht sich in seiner Karriere als Apostel immer wieder Anfeindungen ausgesetzt – man wirft ihm seine Vergangenheit als Christenverfolger vor, man spricht ihm die Befähigung ab, über den Glauben zu sprechen, weil er Jesus nicht zu Lebzeiten gekannt hat. Paulus antwortet auf solche Anfeindungen, in dem er von seinem eigenen Leben erzählt, wie er selbst Gott am eigenen Leib erfahren hat, auch von seinen eigenen Zweifeln und Abgründen. Und vielleicht ist das auch bei uns so. Wir können und dürfen vielleicht sowieso nur von Gott reden, wenn wir zugleich bereit sind, auch von uns selbst zu reden, von unserem Leben, unserer Geschichte. 

Das ist nicht einfach, das wissen wir alle selbst. 

Die Geschichten, die hier heute zusammenfließen, erinnern uns daran, dass das auch gefährlich sein kann. Die Christenverfolgung der Antike, die Paulus wahrscheinlich in Rom das Leben gekostet hat, ist nicht ohne Parallelen in der Gegenwart. Fragen Sie unseren Pastor Favor Bancin, unter welchen Gefahren Christinnen und Christen mittlerweile in Teilen Indonesiens leben. Informieren Sie sich in den Nachrichten, wie christliche Gemeinden in der Türkei leben oder in China. Wie es in der DDR war. Oder fragen Sie Pfarrerinnen und Pfarrer in Ostdeutschland, die gegen die braune Hetze der AfD, Pegida, der Pro-Bewegung und anderer Nazis den Glauben an den dreieinen Gott bekennen, der der Schöpfer und Erhalter ALLER Menschen ist, egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion. 

Und wenn wir aus den Ereignissen in Chemnitz in diesen Tagen eins mitnehmen, dann doch das: Der Anfangschoral von Mendelssohn, den wir gerade gehört haben, gilt uns, hier, heute, jetzt, uns im Einzelnen, uns in Deutschland, in Europa, in der Welt: Wachet auf, ruft uns die Stimme! 

Als einige von unseren Chorsängerinnen und Chorsängern dankenswerter Weise hier vorbei gekommen sind, um den Gottesdienst mit vorzubereiten, da waren wir, als wir im Gespräch an diesem Punkt angelangt waren, für den Moment sprachlos, so irgendwie. Warum muss das sein? Warum muss das für Menschen gefährlich sein, wenn sie ihren Glauben bekennen? Wir haben geahnt, dass man die Schuld dafür nicht allein Gott in die Schuhe schieben kann – denn es sind immer Menschen, die andere Menschen quälen, foltern, mobben, töten. Aber warum muss das sein? Und wir haben das starke Gefühl gehabt, dass es dafür keine allgemeingültige Antwort geben kann. Nur den Protest. Und die Hoffnung, dass allerletzten Endes die Verfolger nicht das letzte Wort haben werden. Dass Gott mit den Rattenfängern und Volksverhetzern unserer Tage noch etwas anfangen kann, dass er mit ihnen das tun kann, was er mit Paulus getan hat: Dass er sie umwirft und auf den richtigen Weg bringt und dass sie mit seiner Hilfe sogar noch oder wieder Gutes tun können, wenn sie ihre bösen Wege verlassen. So wie Gott auch mit uns und unseren verdrehten, schrägen und manchmal schlimmen Lebensgeschichten etwas anfangen kann. 

In der Josefsgeschichte sagt Josef ja zu seinen Brüdern den wichtigen Satz: „Ihr hattet Böses im Sinn, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Und das erleben wir heute. Lieber N., liebe F., es ist schlimm, dass Ihr Eure Heimat verlassen musstet. Und gleichzeitig sind wir als Gemeinde unendlich dankbar, dass Ihr hier seid und dass Ihr ein Segen seid mitten unter uns! 

Und wir sind in der Vorbereitung gedanklich noch einen Schritt weitergegangen. Und haben geahnt, dass es noch eine Hoffnung gibt, einen Trost, wenn den Bösen nicht Einhalt geboten wird. Einen Trost, der nicht einfach so auf ein Kalenderblatt gedruckt oder in einem griffigen Satz zusammengefasst werden kann. Einen Trost, der die Grenzen unseres Denkens und unseres Lebens sprengt. Einen Trost, den nicht wir denen, die um ihres Glaubens Willen verfolgt werden, zusprechen, sondern sie uns. Einen Trost, den die Kantorei uns jetzt zusingt.


Siehe Wir preisen selig, die erduldet haben. Denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben. 

Christus spricht: Ich bin bei euch, alle Tage, bis an der Welt Ende.

Wir stehen zu unserem Glauben. Wir sprechen gemeinsam das Bekenntnis, dass gefährlich sein kann. Und wir bekennen stellvertretend für die Menschen, die das nicht können:

Ich glaube an Gott, den Vater, ...
Amen.

Wunderbar gemacht. | Ansprache zur Vernissage

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Ansprache anlässlich der Eröffnung unserer Ausstellung Wunderbar gemacht im Gemeindezentrum Uellendahl.


Kehren wir zurück an den Anfang. Also ganz zurück.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und ganz viel dazwischen. Und bevor Gott noch den Sabbat schuf und ein wohlverdientes Nickerchen machte, lehnte er sich zurück und nickte zufrieden. Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe: Es war sehr gut.

Alles.
Sehr gut.
Alles.

(Mücken und Wespen und Lakritz kann es damals noch nicht gegeben haben, aber lassen wir das.)

Und Adam und Eva lustwandelten durch den Garten Eden, und sie waren beide nackt und schämten sich nicht, denn sie hatten es noch im Ohr: Und Gott sah alles an, was er geschaffen hatte, und siehe: Es war sehr gut.

„Gott, ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke…“

Und es hätte so wunderbar weitergehen können.
Wenn nicht die Schlange eines Tages leise den ersten Zweifel in die Welt gezischt hätte:
„Sollte Gott wirklich gesagt haben…?“

Und schon im Garten Eden fing damit die Diskussion an, was man denn nun essen darf und was nicht, und Adam und Eva beginnen eine Apfel-Diät oder Steinzeitkost oder was weiß ich, und sie erkennen, dass sie nackt sind. Und das Wissen, dass sie wunderbar gemacht sind, wird leise, aber unaufhaltsam übertönt von dem leisen Zischen: „Sollte Gott wirklich gesagt haben…?“

Und Adam und Eva fingen an, sich feige zu beblättern und ihre Körper zu verstecken.

Wir kennen die Stimme der Schlange.
Sie zischelt und schlängelt sich durch die Jahrhunderte, jetzt vielleicht lauter als je zuvor.
Eine amerikanische Kollegin (Nadia Bolz-Weber, ich weiß nur nicht mehr, wo) hat einmal gesagt: „Zeig mir irgendein Körperteil. Und ich zeige Dir eine Branche, die ihr Geld damit verdient, Menschen zu überreden, dass genau dieser Körperteil an ihnen falsch ist und korrigiert werden muss.“

Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe: Es war sehr gut.
Und wir stehen vor dem Spiegel und beäugen uns kritisch und sagen: Naja.
Es wächst sich halt raus…

Wir haben auf unser Projekt überwiegend und überschwänglich viele positive Rückmeldungen bekommen. Aber manchmal auch die Frage: Warum macht ihr das als Kirche?

Und die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Weil es halt das ist, was wir als Kirche so machen.

Wir suchen und finden Schönheit dort, wo niemand sie vermutet.

Wir sehen im Tod des Einen die Grundlage neuen Lebens für alle. So wie wir auf Gräbern inmitten von Trauer und Tod von Auferstehung und Leben sprechen.

Wir suchen Gottes Spuren in der Welt und finden sie in den Gesichtern und Geschichten der Menschen. Wir blicken in ein von Sorgenfalten durchfurchtes Gesicht und sagen leise: Danke, Gott, dass Du diesen Menschen bis hierher getragen hast.

Wir sagen Menschen, die unter ihrer Schuld zu zerbrechen drohen: Dein Sünden sind dir vergeben – geh‘ hin im Frieden des Herrn.

Wir erheben unsere Stimme, um der Schlange zu widersprechen, wenn sie redegewandt und eindringlich und unheimlich überzeugend sagt: Du bist nicht wunderbar. Du bist zu alt, zu dick, zu dünn, zu dunkel, zu langsam, zu gezeichnet vom Leben, zu klein, zu groß, zu anders, zu männlich, zu weiblich oder zu wenig von beidem…

Nein! Und weil Bilder manchmal so viel lauter sprechen als Worte, tun wir es eben auch mit Fotos.

Warum wir das als Kirche machen?

Gucken Sie sich die Bilder an. Dann wissen sie’s.

Ach, lasst mir doch meine Kürbisse...

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Ein bisschen leiser scheint es geworden zu sein. Trotzdem kann man den Kalender danach stellen - Ende Oktober ist es wieder soweit: Das Naserümpfen, das Unken und Motzen über Halloween. "Es gibt kein Entkommen", zelotete vor einigen Jahren Margot Käßmann ausgerechnet in der BILD-Zeitung und bediente sich dabei altbekannter Argumente aus der Mottenkiste kulturkritischer Protestanten und anderer sittlichkeitsbewegter und vaterlandsbesorgter Kreise. Argumente, die in den frühen 20er und späten 40er Jahren des letzten Jahrhunderts Hochkonjunktur hatten, als die Kirchen sich noch vehement für ein Verbot des rheinischen Karnevals einsetzten: Es sei reiner Kommerz, man habe diese und jene erschröckende Eskalationsanekdote gehört, außerdem sind die Katholiken auch dagegen. 

Die "heidnischen Wurzeln"

 

Evangelisch.de lässt in diesem Jahr den Vorsitzenden der Evangelischen Allianz, Ekkehard Vetter, zu Wort kommen. Der raunt in der Osnabrücker Zeitung, dass hinter Halloween "ein heidnischer Brauch und die Tradition des Totenkultes steht." Soso. Der geneigte Leser mag sich fragen, welcher Totenkult dahinter stehen mag, aber mit Detailfragen wollen sich Vertreter*innen solcher sogenannter Kontinuitätshypothesen nicht befassen. Diese Hypothesen sind aus zwei Gründen problematisch: 

Die penetrante Rückführung von Volksfesten auf vermeintlich antik-pagane Vorläufer war ein liebes Hobby der romantischen Volkskundler. Im Bestreben, den bürgerlichen (und unterbürgerlichen) Festkalender zu adeln (und zum Teil mit dezidiert kirchen- oder christentumsfeindlicher Spitze), konstruierte man riesige Spannungsbögen über Zeiten und Räume hinweg. Historisch ist das kaum haltbar, aber die Volkskundler der ersten Stunde arbeiteten eher assoziativ als quellenkritisch. Da findet man in irgendeinem Werk über die Sitten und Gebräuche der Etrusker einen Bericht über Geschenkbräuche im Winter, und schon hat man die Wurzeln der Weihnacht im vorchristlichen Dunkel ausgegraben. Und wo keine Quellen zur Hand waren, scheute man sich nicht, die Belege einfach zu erfinden. Was so gut ins eigene Weltbild passt, das muss es schließlich gegeben haben. Das Anliegen der romantischen Volkskundler war es, den Festen den Anschein des "Ursprünglichen", "Reinen", "Echten" zu geben. Im Laufe der Zeit wurde daraus auch das "echt Germanische" - kein Wunder, dass die Nazis diese Kontinuitätshypothesen gern aufnahmen und mit ihrer Hilfe versuchten, die christlichen Wurzeln der Fest- und Feiertage zu leugnen, um diese im Dienste nationalsozialistischer Propaganda zu instrumentalisieren. 
Der erste, der die heidnische Herkunft von Halloween behauptete, war der schottische Ethnologe James Frazer. Der bezog sich methodisch auf Wilhelm Mannhardt, war ganz einer religionskritischen Grundansicht verhaftet, die Menschheit entwickle sich mental von der Magie über die Religion zur Wissenschaft, und also fast ein Musterbeispiel für den westeuropäischen Kontinuitätenbastler. In Deutschland verbreitete das zwischen 1927 und 1942 (...) erschienene Handwörterbuch des deutschen Aberglaubensähnliche Thesen. 

Haltbar sind solche Kontinuitätshypothesen nach heutigem historischen Wissensstand und methodischen Standard nicht. Allzu frei und mitunter gewaltsam werden hier disparate Befunde unter eine Überschrift gestellt, allzu unkritisch werden hier mitunter hochgradig zweifelhafte Quellen zitiert. 

Selbst, wenn es solche heidnischen Wurzeln gäbe - die Dinge ändern ihren Charakter, wenn sie in einen neuen Kontext gestellt werden. Zum Beispiel die Kartoffel: Bei den indigenen Völkern Süd- und Mittelamerikas spielte sie eine wichtige Rolle im kultischen Leben, der ganze Festkalender richtete sich nach dem Saat- und Ernterhythmus. Als sie in die Alte Welt importiert wurde, verlor sie diesen Zusammenhang und wurde zum gänzlich entmythologisierten Nahrungsmittel. Oder die Olympischen Spiele - in der Antike frömmer und religiöser und kultischer als heute der Kirchentag. Käme jemand auf die Idee, Leichtathletik zu verbieten, weil in der Antike (und zwar nachweislich) körperliche Ertüchtigung mit religiösem Überbau betrieben werden konnte? Ich hoffe nicht. 

"Wir sind evangelisch und feiern Reformationstag"


In sozialen Medien machen dieser Tage wieder Memes mit einer sehr eigenen Ästhetik die Runde: "Wir sind evangelisch, wir feiern kein Halloween." Oder: "Wir sind evangelisch, wir feiern Reformationstag." 

Im ersten Fall wird ein Kausalzusammenhang behauptet, der alles andere als selbstverständlich ist. Ich habe nachgegeguckt: In keiner reformatorischen oder modernen Bekenntnisschrift ist von Halloween die Rede. "Ich bin evangelisch. Ich feiere kein Halloween" bewegt sich auf einer Linie mit Sätzen wie: "Ich habe keine Mikrowelle. Ich bin 1,75 m groß" oder "Ich lese keine Liebesromane. Ich wohne im dritten Stock." Beide Sätze können jeweils für sich genommen durchaus wahr sein - aber das eine muss mit dem anderen nicht zwingend etwas zu tun haben.

Im zweiten Fall wird schlimmstenfalls schlichtweg gelogen. Der Statistik nach feiern nämlich nur sehr wenige Menschen in Deutschland den Reformationstag in der einzigen Form, die sich bislang durchgesetzt hat: Indem sie einen Gottesdienst besuchen. Und damit hängt zusammen, dass Halloween überhaupt keine Konkurrenz dazu sein kann: Es ist bislang, von den Zentenarien abgesehen, nicht gelungen (und vielleicht hat es auch niemand versucht), dem Reformationstag einen Volksfestcharakter zu geben. Wir hätten als Kinder nicht quengelnd vor dem Fernseher gesessen und nach geschnitzten Kürbissen verlangt, wenn es kindgerechte und spaßige Formen gegeben hätte, den Reformationstag zu begehen. Wenn zum Beispiel Martin Luther in die Häuser gekommen wäre und den Kindern, die brav das Vaterunser aufsagen konnten, Geschenke gegeben oder in die bereitgestellten Stiefel gelegt hätte. Oder wenn wir im Garten Thesen gesucht hätten. Oder so, you know what I mean. 

Natürlich ist Halloween auch ein Triumph des Kommerzes und ein Beispiel für die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Aber man kann ihm nun wirklich nicht anlasten, dass die evangelischen Kirchen es nie richtig hinbekommen haben, Reformationsparty zu feiern.

Lasst mir meine Kürbisse.


Natürlich bin ich befangen. Als Kölner stürze ich mich selbstverständlich auf jede Gelegenheit, mich schon vor dem 11.11. zu verkleiden. Vielleicht dieses Jahr als Johann Tetzel. Und Nachbarskinder, die mir "Süßes oder Saures" entgegenblaffen, werde ich freundlich ermahnen, ein bisschen höflicher zu sein, dann gibt's auch was, um sich die Zähne zu ruinieren. Und bestimmt werde ich vorher pflichtschuldig in irgendeine Veranstaltung zum Reformationstag gehen. Wahrscheinlich wird mir ein Kollege oder eine Kollegin erzählen, wie wichtig die Reformation ist, "gerade in der heutigen Zeit". Wahrscheinlich wird man sentimental daran erinnern, wie voll die Reformationstagsfeiern letztes Jahr gewesen sind. Wahrscheinlich werde ich "Ein feste Burg" singen und mir wünschen, es klänge ein bisschen mehr nach Fangesang aus der Südkurve. Wahrscheinlich werde ich das dumpfe Gefühl haben, dass es irgendwie "richtig" ist, wenig Spaß bei so einer Veranstaltung zu haben, weil "kein Spaß" eben so gut evangelisch und die angemessene Haltung gegenüber so bedeutenden Phänomenen wie der Reformation ist.

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