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Channel: Kirchengeschichten
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Analog-Exerzitien | Lebenskunst unter Künsten

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Schwer liegt sie in der Hand, die alte Kamera, eine Revueflex AC2. "Gute Kamera", brummen die, die sie noch kennen. Ich habe sie geerbt, generalüberholen lassen, und will damit jetzt das Fotografieren lernen. Wenn es ohne Bildstabilisator, Autofokus und Blitzautomatik geht, dann geht alles andere erst recht.



Sie bringt einen Hauch von Gestern ins Leben - wo bekommt man eigentlich noch Rollfilme? Und wie überbrückt man die gefühlte kleine Ewigkeit, bis die Bilder endlich entwickelt sind und man mit klopfendem Herzen noch im Fotoladen den Umschlag aufreißt? 

Warten. Nägelkauen. Loslassen. Überrascht Werden.

Das Warten auf ein Ergebnis eigener Arbeit hat fast etwas Exerzitienhaftes. Die Entwicklungszeiten zwingen zu Geduld, verlangen, dass ich ein Projekt erst einmal ruhen lasse und woanders weiter mache. Das bedeutet auch: Ergebnisse können nicht direkt abgeglichen werden. Ich drehe an der Blende, schraube ein anderes Objektiv auf, drücke ein paar Mal auf den Auslöser - und hoffe, dass ich in ein-zwei Wochen noch weiß, warum das eine Foto besser oder schlechter oder einfach nur anders ist als das nächste. Einerseits führt das zu einem bewussteren Tun: Ich schraube nicht einfach so herum, versuche, mir Einstellungen zu merken, vielleicht sogar zu notieren. Andererseits bringt es eine Gelassenheit mit sich: Es wird sich schon zeigen, welche Einstellung die richtige war. Oder, bei mir im Moment eher der Fall, welche die falsche, wann ich die Kamera nicht ruhig genug gehalten habe. Und so. Ich akzeptiere, habe ja auch gar keine andere Wahl, als mich überraschen zu lassen. 



Kontrollverlust.

Es ist ein Reflex. Wenn das Foto geschossen ist, kippe ich die Kamera nach unten und gucke auf ihre Rückseite. Dummerweise sehe ich da aber keinen Bildschirm, sondern eine Tabellen mit irgendwelchen Zahlenwerten, die wahrscheinlich kolossal wichtig sind, deren Sinn mir aber bislang verborgen bleibt (was sich wahrscheinlich auch auf die Fotos auswirkt). Ich kann nichts bewusst korrigieren, kann nicht garantieren, dass das Foto dem Motiv, das ich im Moment so toll finde, auch nur annähernd gerecht wird. Vielleicht wird sich das im Laufe der Zeit ändern, im Moment ist zumindest der gefühlte Kontrollverlust total und lässt sich auch durch das drei- oder viermalige Knipsen zur Sicherheit nicht ausgleichen. Es nervt, ungemein. Auf jeden Fall am Anfang. Und gleichzeitig merke ich: Es fällt mir leichter, mich von Motiven zu lösen, aus Situationen zu verabschieden und weiterzuziehen. 



Grenz 'n' Werte.

Sechsunddreißig. Zum ersten Mal seit über fünfzehn Jahren kriegt diese Zahl etwas Magisches. Sechsunddreißig Bilder passen auf einen Film, eigentlich noch weniger, das erste und das letzte Bild werden ja nie etwas. Was für andere Dimensionen sich hier auftun, wird mir bewusst, als ich mir den Ordner mit meinen Bildern aus dem Israelurlaub im Herbst angucke. Das sind 1.327 Fotos. Tausenddreihundertsiebenundzwanzig. Schon das Zahlwort ist unübersichtlich. Tausenddreihundertsiebenundzwanzig. Sechsunddreißig. Die Rolle hat einen Anfang und ein Ende, dazwischen ist Platz, und der reicht eigentlich, ist knapp, aber nicht zu knapp. Und Verknappung bedeutet ja Intensivierung. Schon im Prozess des Fotografierens. Der wird langsamer. Für zig Versuche, unter denen mit etwas Glück schon etwas Gutes dabei ist, ist schlicht kein Material da. Das ändert das Fotografieren: Ich mache mir mehr Gedanken über das einzelne Foto. Und irgendwie macht es auch was mit den fertigen Fotos. Sie sind weniger. Und wertvoller. Wahrscheinlich nicht aus künstlerischer Sicht. Aber aus meiner. Vielleicht, weil in Kopf und Herz kein Platz für tausenddreihundertsiebenundzwanzig Geschichten ist, für 36 aber schon.



Verlangsamung. Ungleichzeitigkeit.

Die ungewohnt lange Zeitspanne zwischen dem Knipsen und dem fertigen Bild führt dazu, dass die analog entstandenen Bilder, auch wenn die Fotolabore mittlerweile immer eine CD dazuliefern, für bestimmte Dinge nicht geeignet sind. Zum Beispiel für keine unmittelbaren Statusupdates, für Selfies oder Momentaufnahmen, die anderen zeigen: Hier bin ich, das mache ich gerade. Die Gefahr ist deswegen geringer, dass sie Fotos werden, die eigentlich für andere sind. Und die Zwischen-Zeit verändert das Betrachten der Bilder: Zwischen ihrem Entstehungsmoment und dem ersten Angucken liegt eine Zeit des Wartens, aber auch eine Zeit des Erinnerns und des Verarbeitens, aus der Gegenwart ist Vergangenheit geworden. Auch das entlastet die Bilder, und lädt sie gleichzeitig auf mit etwas Anderem, Tieferen. Der ausgedehnte Entwicklungsprozess, der Wert der einzelnen Bilder, all das macht auch etwas mit dem Fotografieren an sich. Ich bin langsamer geworden. Ertappe mich immer wieder dabei, bei meiner Kompaktkamera unwillkürlich am optischen Zoom drehen zu wollen, habe das Handy gar nicht mehr so schnell in der Hand. Dadurch gehen Motive verloren, aber gleichzeitig entstehen weniger Fotos, die ihnen nicht gerecht würden. 



Die Würde des Unperfekten.

Vielleicht braucht man eine gewisse Reife, um in dem Etikett "Interessantes Gesicht!" das Kompliment wahrnehmen zu können. Denn zuallererst signalisiert es ja ein Abseits von gängigen Schönheits- und Perfektionsidealen. Hand aufs Herz: Der zeitliche Abstand zwischen dem Anblick des Motivs im Sucher und dem ersten bangen Blick auf die Bilder birgt auch Enttäuschungspotenzial. Das Motiv wandert in den Kopf, nistet sich dort ein, wird schöner und ausdrucksstärker und rundum perfekter und überhaupt. Und beim Durchblättern der Fotos stelle ich fest: Autofokus, Bildstabilisator - ganz so verkehrt ist das alles nicht. Und ärgere mich über Körnung, verwackelte Bilder, ganze Filme, die nichts geworden sind. Zum Glück gibt es kluge Leute wie Henri Cartier-Bresson. Der hat einmal gesagt, Schärfe sei ein bourgeoises Konzept. Und recht hat er ja. Zu glatte Fotos sind nicht nur unrealistisch, sie sind auch uninteressant. Warum auch sonst sollten wir Instagram- und sonstige Retrofilter über unsere Digitalbilder jagen, die ihnen einen Anschein von der guten alten Zeit und irgendetwas ungreifbar "Echtem" verleihen sollen? Wer an den vermeintlichen Schönheitsfehlern vorbei sieht, kann sich der Geschichte öffnen, die ein Bild oder auch ein Gesicht erzählt. The supreme vice is shallowness (Oscar Wilde). Trotzdem brauche ich unbedingt ein lichtstärkeres Objektiv. Und vielleicht doch was mit Bildstabilisator...



"...von einem stinkenden Stern"

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FREITAL.
HEIDENAU.
HOYERSWERDA.
ROSTOCK-LICHTENHAGEN.
Aber auch:
MÖLLN.
KÖLN-MÜLHEIM.
SOLINGEN.


"In Solingen brannte ein Haus, Frauen und Kinder verbrannten. Betroffenheitsadressen wurden abgegeben. Ratlosigkeit herrschte vor. Wahrscheinlich waren die Mörder Jugendliche. Sie haben ihren Hass gegen das Ganze, gegen uns gerichtet - und Muslime getroffen. Wer vergiftete sie? Wir. Die Jugendlichen fielen nicht von einem stinkenden Stern, sondern wuchsen unter unseren kalten Händen auf. Wir, traditionell auf dem rechten Auge blind, verniedlichten doch die Nazischweinereien. Wir hatten drei Jahrzehnte anderes zu tun, als unserer Jugend Rede und Antwort zu stehen. Wir lehrten sie den Gebrauch der Ellenbogen, wir ersetzten Rückgrat und Anstand durch die harte Mark - und wundern uns. Wir werden uns verrückt wundern. Johannes Rau hat schon recht, wenn er sagt: 'Wir können Gesetze schaffen und anwenden, wie wir wollen. Findet keine Veränderung in den Köpfen und in den Herzen statt, sind wir verloren!''Die Stadt liegt wüst, und die Häuser sind ohne Menschen', sagt Jesaja."

Bild von der Aachener Zeitung.

"Wir verwerfen die falsche Lehre..."

Pastorale Kuppelei oder missionarische Chance? Tro, hopp och kärlek (svt)

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Tro, hopp och kärlek. Das ist der Name einer neuen Doku-Soap im schwedischen (Staats-)Fernsehen. Glaube, Hoffnung, Liebe, eins der bekanntesten Bibelzitate überhaupt. Und offensichtlich mit Bedacht ausgewählt, denn: Es geht um Dating mehr oder weniger im Stil von „Bauer sucht Frau“ (das auch in Schweden mit großem Erfolg gelaufen ist), aber das allein macht es ja nicht interessant genug, um hier erwähnt zu werden. Nein, es geht um Pfarrerinnen und Pfarrer (bzw. einen freikirchlichen Pastor), die einen Partner/eine Partnerin suchen. 

https://instagram.com/josefemanuel/


Das Thema ist in Schweden wahrscheinlich ein bisschen weniger kontrovers als es in Deutschland wäre: In Deutschland prägt (trotz der heldenhaften Einsätze von Simon Böer, Lee Rychter, Robert Atzorn, Christine Neubauer und Veronica Ferres und allen anderen) der zölibatäre katholische Priester das mediale Pfarrbild entscheidend mit, in Schweden ist der aber eine absolute Ausnahmeerscheinung. Vor etwa zehn Jahren gab es schonmal einen Werbespot, der zwei Kolleg_innen beim Flirten zeigte – ganz fremd ist die Idee dem schwedischen Fernsehen also nicht. 

Anfang des Jahres ging eine Mail an diverse Pfarrer_innen raus, Jacob Sunnliden war so nett, sie öffentlich zu machen:
"Im Frühjahr 2015 plant SVT [...] ein neues Format zu produzieren. Ein Format, bei dem es um Glaube, Liebe und Hoffnung gehen soll... Die Sendung soll vier alleinstehenden Pfarrer_innen folgen, die für ihren Job brennen und die einen Lebenspartner finden möchten. Der Gedanke ist auch, dass wir ein moderneres Bild von der Pfarrschaft und davon, was die Kirche heutzutage macht, zeigen wollen. Jetzt suche ich diese Pfarrer. Bist du es? Oder kennst du jemanden, der deiner Meinung nach dazu passt? Das Format soll einen seriösen Ton haben und mehr in Richtung Dokumentation gehen. Ich erzähle sehr gerne mehr und biete ein Gespräch dazu an. Aber ich möchte noch einmal betonen, dass wir eine seriöse Sendung produzieren wollen, die weit entfernt ist von einer albernen Doku-Soap. Keiner der Pfarrer, die mitwirken, sollen sich auf irgendeine Weise Sorgen um ethische oder moralische Problemstellungen machen. Und ich lege persönlich Wert darauf, dass die 'richtigen' Pfarrer_innen hier die Kirche repräsentieren sollen."
Die bindungswilligen Pfarrerinnen und Pfarrer konnten sich auf eine Initiative von SVT hin bewerben und sich dann Ende März mit einem kurzen Video den potenziellen Kandidat_innen vorstellen. 

MIT VIERUNDVIERZIG JAHREN, DA FÄNGT DAS LEBEN AN...

klippen kommer samtliga från svt.se

Der erste, der sein Glück versuchen darf, ist David Castor, ein computerinteressierter, bloggender Pfarrer aus Småland, der theologisch eher konservativ ist und nach eigener Aussage im Laufe seines 44jährigen Lebens noch keine Beziehung hatte. In einem Interview mit Kvällsposten erklärt er: 
„Ich habe keine Ahnung, warum ich ausgewählt wurde. Vielleicht haben sie [die Redaktion] mich bei Facebook gesehen, wo mein Status ‚Single‘ ist. [...] Sie haben damit gelockt, dass das Programm seriös sei und dass es um den Glauben, die Kirche und die Rolle des Pfarrers gehen sollte. Das fühlte sich gut an. [...] Aber diese Datingperspektive schien mir schon eher fremd und etwas, das halt dazugehörte. Aber jetzt finde ich das spannend – wenn auch ein bisschen surrealistisch. [...] Dass ich [...] noch niemanden kennengelernt habe, kann ich eigentlich nicht erkären. [...] Zum Teil hat das damit zu tun, dass ich etwas schüchtern bin, zum Titel hängt das damit zusammen, dass ich arbeite, wenn alle anderen frei haben. [...] Es wäre komisch, wenn ich in meinem Beruf [jemanden kennenlernen würde]. Die Rolle des Pfarrers ist, alle zu sehen. Und als solcher habe ich immer eine leitende Funktion.“ 
Die pastoraltheologischen Fragen, die mit der Sendung zusammenhängen, sind ohne Zweifel interessant. Mindestens genauso interessant ist aber auch die Frage: Wer meldet sich auf eine solche Kontaktanzeige hin? 

Für David hat SVT acht Frauen ausgewählt. Alle mittleren Alters, zum Teil schon mit Kindern aus einer früheren Ehe, eine ist Köchin, eine Schriftstellerin, eine andere Lehrerin. Die meisten tragen irgendwo ein Kreuz oder andere christliche Symbole, dem Dialekt nach zu urteilen kommt auch mindestens die Hälfte aus einer der Gegenden, die eher volksfromm sind: Die Westküste, Småland und andere Orte, die besonders empfänglich für die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts waren. In kurzen Videostatements geben sie als Gründe für ihre Bewerbung das Übliche an: Er wirkt nett, hat schöne Augen, gefällt ihnen, scheint Humor zu haben und dergleichen. 

David trifft alle acht Kandidatinnen hintereinander, probiert es also mit Speed-Dating. Weil er sich selbst für schüchtern hält, wünscht er sich ein Gegenüber, das etwas forscher ist. Mit der ersten Kandidatin hat er dabei kein Glück, denn die sagt nur: „Hallo“ und „nervös“, und spricht dann einfach nicht mehr, lässt sich auch von Davids aktivem Zuhören nicht zu weiteren Äußerungen bewegen. „Blackout“, sagt sie später. Die zweite Kandidatin ist ungleich gesprächiger, auf seine recht schnelle Frage, wie sie es wohl mit dem Glauben halte, sagt sie: „Ich bin damit aufgewachsen, dass Gott existiert... wenn ich zum Beispiel ein Glas umschmeiße und es im letzten Moment noch auffange, sage ich: ‚Danke, Gott!‘“, und dann sagt sie den sehr schönen, aber auch irgendwie traurigen Satz: „Ich habe nie daran gezweifelt, dass Gott existiert, aber er hat wohl das eine oder andere Mal an mir gezweifelt.“ „Das glaube ich nicht“, ruft David, und freut sich auf ein zweites Date. Sie auch. Die dritte im Bunde hat gleich zwei Kreuze umhängen, eins davon in mindestens Bischofsgröße, und fängt schon an zu reden, bevor sie sitzt: Es sei wichtig, über Jesus zu reden, außerdem sei er, also David, ja so nett. Dann sagt sie etwas streng: „Ich hoffe, dass Dir das mit dem Glauben auch wichtig ist!“ Schließlich sei es nicht, ü-ber-haupt nicht einfach, im heidnischen Schweden als „christliches Mädchen“ jemanden zu finden. Dann will sie noch wissen, was für ihn sonst noch „gutes Material für eine Ehefrau“ ausmache. David rutscht auf seiner Bank hin und her. Er findet das schwer zu sagen, man müsse ja gut miteinander auskommen. Mit mir kommt man gut aus, erklärt sie. David sieht nach dem Gespräch etwas gestresst aus, aber dann kommt auch schon Köchin Gina. Fünf Kinder, seit ihrem 29. Lebensjahr Christin – und mit einem Pastor verheiratet gewesen, der, wie sie freudestrahlend erklärt, David von Aussehen und Wesen her zum Verwechseln ähnlich gewesen sei. Die nächste Kandidatin kennt er schon virtuell, denn sie waren beide Mitglied im selben Forum, der anonymen Sprachpolizei („Du bist ein unglaublicher Nerd“, hatte schon der Moderator treffend bemerkt). Eine weitere Kandidatin tanzt in der Kirche Bauchtanz und geht in die Bibliodramagruppe einer Studentenpfarrerin, bei der sie Frauenfiguren aus dem Alten Testament gestaltet – „das ist ja mal was... äh... anderes“, sagt David und sieht alles andere als begeistert aus. 

ZWISCHEN BIBEL UND BOWLING




Josef Emanuel Barkenblom ist 31 Jahre und damit der Jüngste im Bunde, Jugendpastor der Pfingstkirche Södertörnskyrkan in Huddinge bei Stockholm. Auch er ist äußerst medienaffin, bloggt, twittert und ist bei Instagram. Auf seinem Blog erklärt er, warum er sich nach einiger Bedenkzeit zum Mitmachen entschlossen hat: 
„Ich habe mich entscheiden mitzumachen, weil das wahrscheinlich irgendjemandem helfen kann. Vielleicht hilft das jemandem zu einem positiven Bild von Gott, Christen, der Kirche und dem Bild von Pastoren! Und wie wir auf Beziehungen sehen. Ich dachte, ich bekomme eine Chance, mit meinem Leben zu ‚predigen‘. Nicht nur sonntags, sondern auch montags. Ich habe mich entschieden mitzumachen, weil wir alle mit Beziehungen zu tun haben und weil ich glaube, dass gesunde Vorbilder notwendig sind und ich ein solches sein will. Ich bin nicht perfekt. Ich habe eine Menge Fehler gemacht. Aber ich glaube an das Leben, das ich lebe und glaube, dass es das aushält, auf die Probe gestellt und im Fernsehen gezeigt zu werden. Beziehungen, Liebe und Sex sind Gottes Ideen, deswegen sollten wir, die wie Leiter sind und für Gott sprechen, auf jeden Fall zeigen können, wie das gehen soll. Darum zeige ich öffentliche Dates. Ich glaube nicht, dass das für mich einfacher wird, aber ich will dem Ganzen auf jeden Fall eine Chance geben. Vielleicht kann ich the love of my life finden!! =)“ 
In die engere Auswahl von Josef, der in seinem Bewerbungsvideo deutlich gemacht hat, dass er eine Heiratskandidatin sucht und Sex nur in der Ehe für ihn in Frage kommt, kommen fünf Frauen ungefähr in seinem Alter, darunter drei Studentinnen, eine Innenarchitektin und eine Kollegin, ebenfalls aus der Freikirche. Sie geben andere Gründe für ihr Mitmachen an: Sie suchen die Herausforderung, wollen ihren Glauben mit jemandem teilen, nicht mehr allein sein. Bevor sie zum Date fahren, beten sie daher gemeinsam für einen gelungenen Tag.

Um den Glauben geht es auch bei seinem ersten Date mit Johanna (der Innenarchitektin), bei dem sie sich zum Bowlen treffen. 

"NICHT OHNE MEINE CHEFIN"


Åsa Meurling ist 52 Jahre alt und Pfarrerin auf einigen Inseln vor Stockholm. Über ihre Motivation zum Mitwirken bei Tro, hopp och kärlek erklärt sie im Interview mit der Lokalzeitung „mitt i“
„Zuerst dachte ich, das sei ein Scherz, aber dann hat das Fernsehen mich angerufen, und da habe ich angefangen zu überlegen. Es ist nicht so einfach, hier draußen jemanden kennenzulernen. Ich treffe viele Menschen in meiner Gemeinde, aber ansonsten bewege ich mich nicht in Kontexten, in denen ich jemanden kennenlernen könnte. Und es ist ja nicht gerade so, dass der Richtige im Lebensmittelgeschäft von Djurö auf mich wartet. [...] Ich war ein bisschen unsicher, ob ich als Pfarrerin wirklich die Liebe im Fernsehen suchen kann, aber dann habe ich mit mehreren aus der Gemeinde gesprochen, und alle fanden das eine tolle Idee – Alte wie Junge! Aber vor allem finde ich es gut, ein realistisches Bild vom Beruf zeigen zu können. Viele haben vielleicht so eine Vorstellung, dass Pfarrer_innen sich für etwas Besseres halten und dass wir todernst sind, aber wir sind ja auch nur Menschen. [...] Der, den ich suche, muss sich nicht ‚Christ‘ nennen, aber sollte schon offen für die spirituelle Welt sein. Er sollte mein Alter haben, Wärme ausstrahlen, Nähe mögen und Humor haben.“ 
In Åsas engere Auswahl kommen fünf Männer, zu denen ihre Kollegin bei der gemeinsamen Durchsicht der Bewerbungsschreiben bemerkt: „Die wirken alle schon extrem seriös. Keiner scheint ja den geringsten Zweifel zu haben, dass er dich heiraten will...“ 

Screenshot från http://www.svtplay.se/video/3372423/tro-hopp-och-karlek/tro-hopp-och-karlek-sasong-1-avsnitt-1?tab=klipp

Zu ihrem ersten Date nimmt sie auch gleich Kollegin Yvonne, die auch ihre Chefin ist, mit. Das Gespann trifft auf alle Bewerber gleichzeitig, man verabredet sich am lauschigen See. Ein ehemaliger Berufssoldat hofft, dass sie keine Vegetarierin ist und dass sie nicht abends in der Küche Oblaten backt und Abendmahlswein braut. Ein pensionierter Manager möchte vor allem irgendeine Partnerin haben, und eine Pfarrerin könnte ja ein bisschen mehr Ordnung ins Leben bringen. Die Chefin übernimmt im Folgenden bei Sekt und Fingerfood die Gesprächsleitung, und man fragt sich bei den kurzen Ausschnitten, wer da eigentlich verkuppelt werden soll. In der nächsten Folge, das verrät die Vorschau am Ende, wird Åsa weinen. Und das fühlt sich nicht gut an. 

FUNKTIONSPFARRER FLIRTEN LEICHTER?


(c) blogg.svenskakyrkan.se
Kristin Molander ist 45, geschieden und arbeitet nicht als Gemeindepfarrerin, sondern im Kirchenamt, wo sie für den Kontakt zum ÖRK und zum LWB zuständig ist. Sie glaubt nicht, dass es ihr schwerer als anderen Leuten falle, jemanden kennen zu lernen, führt das aber auch darauf zurück, dass sie keine Gemeindepfarrerin ist: 
„Wenn man zum Beispiel als Gemeindepfarrerin in einer Kleinstadt arbeitet, gehört man ja ein bisschen zur Lokalprominenz, und dann trauen sich nicht alle Männer, die Initiative zu ergreifen und die Dorfpfarrerin anzubaggern. Mein Eindruck ist, dass sich eher Frauen auf so eine Art Beziehungsdrama einlassen. [...] Das allgemeine Bild von der Kirche und von Pfarrern ist relativ oberflächlich. Ich frage mich, wo diese Vorstellungen herkommen, und ich glaube: Der moralische Lebenswandel von Pfarrerinnen und Pfarrern, was man darf und nicht darf. Es gibt eine Erwartungshaltung von außen, dass man moralisch überlegen sein soll. Zusammenfassend kann man sagen, dass es viele Vorurteile gibt, starke und sehr vereinfachende.“ Im Interview mit unt.se scheint sie mit einiger Skepsis auf die Sendung zurückzublicken: Sie beschreibt die zwei Wochen, in denen sie aufgezeichnet wurde, als „eine Herausforderung und ein bisschen durchgedreht [...]. Ich hatte ja zwei Wochen Urlaub, Alltagsdinge wie Einkaufen und das Bringen und Abholen meiner Kinder spielten keine Rolle – die Welt draußen wurde ausgesperrt. Alles wurde zu einem künstlichen Spiel, in dem sich alles darum drehte, Männer kennen zu lernen [...]. Das Liebesleben ist kompliziert geworden, würde ich sagen...“ 
In dem etwas kritischeren Interview mit Kristin (mit der es offenbar Spannendes im Laufe der Sendung zu erleben gibt) erfährt man auch ein bisschen mehr über den Ablauf: Insgesamt um die 250 Pfarrerinnen und Pfarrer wurden gecastet, die Kandidat_innen, die den in der Sendung Mitwirkenden vorgeschlagen wurden, wurden außerdem, im Gegensatz zu den Aussagen des Moderators Mark Levengood, von der Produktionsfirma, nicht von ihnen selbst ausgewählt. 

In einem anderen Interview mit der schwedischen Kirchenzeitung Kyrkans tidning gibt auch Kristin eher berufliche Gründe für ihre Teilnahme an:
"Ich tue das hier für die Kirche und für mich, in der Reihenfolge. Das hier ist ein neuer Kontext für die Kirche, und kann ich dazu beitragen, indem ich christliches Verhalten zeige, dann will ich das machen. [...] Das Primäre ist für mich nicht, jemanden kennen zu lernen. [...] Wenn KG Hammar [der vorletzte schwedische Erzbischof] nur nieste, sind Leute aus der Kirche ausgetreten, und manche sind eingetreten. [...] Als Pfarrerin ist es schwer, alles ganz richtig zu machen, das ist meine Erfahrung. Ich bin im Reinen mit mir und meinem Glauben und meiner Berufung, so gehe ich damit um."
Kristins Kontaktanzeige hat anscheinend, wie schon bei David, am Ehesten diejenigen Kandidaten angesprochen, die man vielleicht als Erstes mit dem Format „Castingshow“ verbindet. Nizze, 48, ist angezogen wie ein Bestatter, nennt sich aber „Universalkünstler“, und hat sich nicht nur zu einem streichergeschwängerten „Liebeslied an Kristin“ hinreißen lassen, das er mit großem Ernst und annähernder Taktsicherheit vorträgt, sondern auch zu einem Armband, das er in der heimischen Schmiede zusammenhämmert. Tomas, der schon als Krankenpfleger, Soldat und Schauspieler gearbeitet hat, stellt fest: „Bei der Liebe ist es wichtig, dass das beidseitig ist. Sonst ist es ja sogar illegal.“ Rickard leert vor dem ersten Date, bei dem Kristin alle fünf auf einmal zum Grillen bei sich zuhause einlädt, eine halbe Flasche Parfüm über sich aus, steckt sich das türkise T-Shirt in die hochgezogene Jeans und freut sich, dass sie ihn von seinem Foto wiedererkennt. Nur in einer Bewerbung spielt das Thema Religion eine Rolle, bei allen anderen sind es auch eher die üblichen Gründe, insofern: Kein großer Unterschied zu anderen Kuppelshows, was vielleicht auch an Kristins Arbeit liegt. 

Am Ende strahlt Mark Levengood in die Kamera: „Glaube ist da, Hoffnung ist da – aber kommt auch die Liebe dazu? Jetzt beginnt das ernsthafte Dating, und wir werden merken: Es ist nicht einfach, den richtigen Partner fürs Leben zu finden. Sogar dann, wenn man Pfarrer_in ist.“

REAKTIONEN IN SCHWEDEN


Gerade zu Beginn der Vorarbeiten hat das Format natürlich für Reaktionen gesorgt. Jacob Sunnliden, ein bloggender Kollege, schrieb bereits im Januar, als die ersten Anfragen rausgingen: 

"Ich bin zwiegespalten bei dieser Idee. [...] [Die Produktionsfirma] will ein moderneres Bild der Pfarrerschaft zeigen. Moderner als welches, ist da die natürliche Frage? Aber dann wiederum ist das eine seriöse Serie, die außerdem bilden soll. Die Dokusoaps von SVT sollen darüber Auskunft geben, was die Kirche ist? Nja, ich bin skeptisch. [...] Nein, die Idee kann gut und vielleicht durchführbar sein. Aber ich mache mir keinerlei Sorgen, ob die Sendung überhaupt durchgeführt werden kann oder ob die Produktionsfirma Kandidaten finden könnte. Nein, so gut kenne ich meine Kirche..."

Die Reaktionen auf die Ausstrahlung der ersten Folge sind unterschiedlich. Auf dem Blogg der "Parteipolitisch Ungebundenen in der Schwedischen Kirche" (POSK), einer Partei im Kirchenparlament, schreibt ein_e Rezensent_in:
"Das Format hat viel Kritik bekommen, bevor es anfing. Sollen Pfarrer_innen wirklich bei einem Dating-Programm mitmachen? Jetzt habe ich die erste Folge gesehen. Ich finde, dass es gar nicht so schlimm ist. Es geht um Menschen, die die Liebe suchen und die durch ihren Beruf und ihr Leben Schwierigkeiten haben, jemanden zu finden. Und sie sind auch unerhört deutlich mit ihrem Glauben und dass dieser etwas für ihr Leben bedeutet. [...] Man könnte ja sagen: 'God moves in mysterious ways.'"
Im Editorial von Göteborgs-Posten wird Tro, hopp och kärlek als eins der Beispiele dafür angeführt, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Schweden seinem Auftrag und seinen eigenen Ambitionen nicht gerecht wird. 

TV-Bloggen schreibt ganz begeistert von der ersten Folge: 
"In der Ankündigung von SVT heißt es u. a., dass die Serie ein Bild davon geben will, worum es heutzutage im Pfarrberuf geht. Nach der Pilotfolge, die im Frühjahr gesendet wurde, und der Episode von heute Abend entsteht der Eindruck, dass der Fokus doch auf der Paarbildung und der Paarbeziehung liegt, und da unterscheiden sich Pfarrer_innen nicht so sehr von so genannten normalen Menschen, auch wenn sie erwartungsgemäß eine gewisse Menschenkenntnis und Lebensweisheit besitzen. Gut so, die Programmidee "Pfarrer sucht Lebenspartner" ist hochgradig interessant, und die Kostprobe von den Personen, die die Pfarrer_innen daten wollen, macht es nicht weniger interessant. Man glaubt ja, dass man als Zuschauer ziemlich schnell erkennt, zwischen wem es letztendlich funken wird. Man guckt allerdings nicht nur um zu sehen, ob man recht hat, sondern auch, weil das hier eine gut gemachte und engagierende Produktion zu sein scheint."

Offizielle Stellungnahmen der Kirche gibt es, soweit ich weiß, nicht.

EINFÄLTIGES BEDENKEN...


Eine Sendung wie diese weckt gleich eine ganze Reihe pastoraltheologischer Fragen, vielleicht sogar Zweifel berufsethischer Art. Mir fällt auf, dass drei von den vieren letztlich volksmissionarische Motive anführen, die sie zu ihrer Teilnahme bewegen: Sie wollen zeigen, dass Pfarrer_innen eben nicht 'anders' sind, sondern Menschen wie Du und Ich, die Kirche und ihre Vertreter_innen sollen als volks- und lebensnah gezeigt werden, sie wollen christliche Werte vermitteln. Diese Begründung liest man immer wieder, bzw. meistens dann, wenn Pfarrer_innen in Kontexten auftauchen, die ungewohnt scheinen. Nicht immer kann man sich dabei von dem Eindruck freimachen, dass hier ein eigentlich privates Interesse im Vordergrund steht, das pastoraltheologisch legitimiert wird. Gleichzeitig nehmen die Kandidat_innen damit die Argumentation des Fernsehsenders auf, der bei der Ankündigung der ersten Staffel verlauten lässt: "Mit Tro, hopp och kärlek wollen wir einen Einblick in einen Beruf geben, der von Vorurteilen umgeben ist, und zeigen, dass Pfarrer_innen und Pastoren auch eine Sehnsucht nach Liebe und Ehe haben, genau wie die meisten von uns."

Aus Sicht gängiger pastoraltheologischer Modelle würde man dem wahrscheinlich widersprechen müssen. "Der Pfarrer ist anders", schrieb schon Josuttis vor etlichen Jahren, und auch Isolde Karle, die in ihrem professionstheoretischen Ansatz sehr viel argumentative Mühe aufwendet, um aufzuzeigen, dass Pfarrer_innen ein bisschen Distanz zum gemeinen Volk ganz gut tut, hätte wohl etwas dagegen. Man wird auch fragen können, ob die medial inszenierte Vermischung von Privatperson und öffentlicher Rolle wirklich für die Einzelnen so gesund ist - aber das müssen die Kolleg_innen wohl selbst in der Supervision klären. 

Natürlich hat SVT es geschafft und mich bei meiner Neigung zur Fernsehsucht gepackt - die nächste Folge steht rot im Kalender. Und, ja, das Programm ist gut gemacht, die Kandidat_innen und vor allem ihre potenziellen Partner_innen, von denen einige Material bieten, von dem man im Schneideraum von RTL nur träumen kann, werden fast liebevoll dargestellt. Trotzdem komme ich aus dem Stirnrunzeln nicht mehr raus. Die Schüchternheit von drei der vier Kolleg_innen fordert Sympathie im wortwörtlichen Sinne heraus, aber wenn in der Vorschau schon Tränen zu sehen sind, fragt man sich doch, ob es letzten Endes nicht doch darum geht, im Dienst der Quote Emotionen zu generieren oder zumindest zu triggern und dann auszuschlachten. Und ob man als Pfarrer_in diese Art Fernsehen unterstützen will. 

Hui, so viel Text. Aber jetzt interessiert mich brennend: Was haltet Ihr, ob Kolleg_in oder nicht, von dem Format? Und: Welche Fragen würdet Ihr den Beteiligten stellen (Interviewanfrage ist schon raus...)?

In eigener Sache

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Alles wird wieder analog! 
In den letzten Wochen war es ruhig bei den Kirchengeschichten, das hatte aber seinen guten Grund. Oder gleich mehrere: Es wurde viel gedoktorarbeitet, vor allem aber (Trommelwirbel bitte) haben es die Cartoons zwischen zwei Buchdeckel geschafft! 
Das Buch ist gestern druckfrisch beim Luther-Verlag in Bielefeld erschienen und eine Zierde (nicht nur) für jedes Bücherregal!


Wer Originale sehen will, kann das auch tun, und zwar derzeit in Meerbusch-Osterath (bei Düsseldorf), im Rahmen des tollen Projektes "Kunst in der Apsis": 




"Immer erstmal auf dem Stuhl sitzen bleiben" - ein Besuch bei diesseits in Aachen

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Plötzlich ist es ganz still, als die Glastür hinter uns ins Schloss gefallen ist. Nach dem Alltagslärm auf der Pontstraße tut das erstmal gut. Wir stehen in einem Ladenlokal, schwarze Fliesen, Tische und Stühle, vor den Fenstern stehen Pinwände und schützen vor neugierigen Blicken von außen. In einer Ecke ein blauer Flauscheteppich, darauf ein Rattankoffer, Sprechpuppen. Und ein Schmetterling. Es ist ruhig, aber nicht totenstill, und das ist wahrscheinlich gut so. Wir stehen in den Räumen von diesseits in Aachen, einem Projekt, das sich an trauernde Kinder und Jugendliche wendet, ihnen Raum und Gesprächsmöglichkeiten bietet. Wir, das sind jugendliche Ehrenamtliche aus der Kölner Jugendarbeit, die sich in den Osterferien weiterbilden zum Thema "Gruppen an der Grenze". Ein paar Grenzen haben wir schon passiert, heute soll es um diese letzte große gehen. Ob die Leute von diesseits sich vorstellen könnten, uns etwas von ihrer Arbeit zu erzählen und den Jugendlichen ein paar Tipps mit auf den Weg zu geben, hatten wir ein paar Wochen vorher mal gefragt. "Klar, herzlich willkommen!" war die prompte Antwort, und genauso herzlich und unkompliziert geht es an diesem Tag weiter. 

Wir sitzen im Stuhlkreis, und Adelheid Schönhofer-Iyassu und Maria Pirch, die beiden Hauptamtlichen des Projekts, beginnen zu erzählen. Über das Projekt, das von den Maltesern und der Pfarrei Franziska in Aachen gemeinsam getragen wird. Und immer wieder von ihren Erfahrungen mit der Trauer von Kindern und Jugendlichen. Man ahnt beim Zuhören, dass sich hier seelsorgliche Kompetenz und Leidenschaft treffen. Gutes Gefühl, das.



Aber es bleibt nicht beim Referat. Plötzlich ist der Ball zurück in die Gruppe geworfen. "Was habt Ihr für Erfahrungen mit Trauer oder Tod gemacht, bei euch selbst oder bei anderen?" fragen die Referentinnen. Und erstmal sagt niemand etwas. Doch dann löst sich irgendetwas, der Erste traut sich mit seiner Geschichte in die Runde. Alle hören zu. Dann die nächste. Dann noch jemand. Am Ende der Runde wird fast jede_r etwas gesagt haben, und auch diejenigen, die sich seit Jahren kennen, lernen Neues voneinander. "Krass, das wusste ich gar nicht", entfährt es einer Jugendlichen, als ihre Freundin vom Tod ihrer Oma erzählt. "Warum redet man da eigentlich nicht drüber?" fragt ein anderer, und so lernen die Jugendlichen ganz nebenbei, was es heißt, dass der Tod in unserer Gesellschaft marginalisiert wird. Die eigenen Trauererfahrungen spielen eine Rolle, wenn man Trauernde begleitet. Die eigenen Trauererfahrungen sind plötzlich mit im Raum, im Ladenlokal auf der Pontstraße. Und man hat das Gefühl, dass sie dort gut aufgehoben sind, bei den beiden Hauptamtlichen, die so aufmerksam und so wohltuend undramatisch zuhören. Und in der Gruppe, die gerade ein Stück zusammengerückt ist. 



In einer letzten Runde wird es wieder pragmatischer: Wie können ehrenamtliche Teamer_innen zum Beispiel mit einer Konfirmandin umgehen, deren Eltern uns bei der Abfahrt zur Wochenendfreizeit mitteilen: "Die Marie ist vielleicht ein bisschen neben der Spur, weil ihre Oma gestern gestorben ist?" Schon bei der Vorbereitung der Schulung wurde es deutlich, und bei der Nachlese mit anderen Referent_innen wird es sich bestätigen: Das Thema spielt bei der Teamerfortbildung, bei Schulungen für die JuLeiCa und dergleichen, so gut wie keine Rolle. Im Gespräch fallen, wie nebenbei, weise Ratschläge: "Immer erstmal auf dem Stuhl sitzen bleiben." - "Fragt euch mal, ob das auch schon eure beste Freundin war, bevor sie einen Trauerfall hatte." Und ähnliches. Die Jugendlichen hören aufmerksam zu, fragen engagiert nach, bringen immer wieder ihre eigenen Erfahrungen mit ins Spiel. 

Nach ein paar Stunden verlassen wir das Ladenlokal. Um uns herum die verkehrsreiche Pontstraße, der Alltag hat uns plötzlich wieder, verlangt, dass wir mitgehen, das Tempo halten, uns anpassen. Und noch einmal wird deutlich, wie wichtig solche Orte wie diesseits sind, an denen Kinder und Jugendliche sagen können: "Plötzlich ist alles anders."

Irgendwann geht es von Aachen zurück nach Vaals. Einkäufe, Abendessen, das Übliche. Aber der Besuch wirkt nach. Statt, wie sonst, lautes Gelächter aus einem der Bungalows zu hören, stößt man überall auf Zweier- oder Dreiergruppen, die sich zurückgezogen haben, unter einem Fliederbusch sitzen, auf der Terrasse, in einem Fenster. Einer der älteren Jugendlichen kommt rüber zum Leiterbungalow. Setzt sich zu uns an den Tisch. "Krass", sagt er, "da hat irgendwie jeder eine Geschichte, mit Trauer und so." Und dann beginnt er, seine zu erzählen. Es wird ein guter Abend. Ruhiger als sonst. Aber das braucht man manchmal. Danke dafür.

Näher ran! | Mehr analoge Exerzitien.

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Wer ab und an hier liest, weiß, dass ich seit etwa einem halben Jahr stolzer Besitzer einer analogen Spiegelreflexkamera bin und darüber das Fotografieren angefangen habe. Seitdem schlage ich mich mit ISO-Zahlenreihen, Objektiven, Brennweiten und Ähnlichem herum, habe eigentlich viel Spaß. Und lerne viel. Zum Beispiel, dass ich nicht der Typ bin, der sich mit Stativ und Thermoskanne in malerische Landschaften setzt und mit langen Belichtungszeiten monumental-zauberhafte Panoramen verewigt. Oder der mit Makrolinse die Schönheit eines Schneckenfühlers zum Leuchten bringt. Was bleibt, ist (erstmal) die Straßenfotografie. 



Dazu gibt es eine Reihe von Ratgebern in digitaler und analoger Form. Beim ersten Lesen eine Enttäuschung: "Lassen Sie Ihr Teleobjektiv zuhause", sagen sie übereinstimmend. "Nähe lässt sich nicht vortäuschen.""Gehen Sie näher ran." Oha. Zum Glück folgen solchen Aufforderungen meist ein paar Aufwärmübungen, Tipps und Tricks im Umgang mit Menschen, denen man buchstäblich im Vorbeigehen begegnet. Nicht alle sind dabei so ermutigend, wie sie wahrscheinlich wirken sollen ("Ich habe fast nie schlechte Erfahrungen gemacht... bis auf das eine Mal, wo mich in Buenos Aires ein Boxer zusammenschlagen wollte..." oder ähnliches). Aber andere sind klug und sinnvoll, sogar sehr pädagogisch aufbereitet - und ich ahne, dass sie auf mehr Bereiche als nur das Fotografieren zu übertragen sind, etwa die von Eric Kim:

GEHEN SIE NÄHER RAN /// ZEIGEN SIE RESPEKT /// BITTEN SIE UM ERLAUBNIS (ERSTMAL). /// IGNORIEREN SIE DIE, DIE SIE FÜR VÖLLIG VERRÜCKT ERKLÄREN. /// MACHEN SIE SICH VORHER GEDANKEN ÜBER ANTWORTEN


Und noch so einiges mehr. Und mich mache mich auf, mal wieder Richtung Mülheim, genauer gesagt auf die Keupstraße. "Klein-Istanbul", wie manche sagen, für mich ist es die Straße, von der ich einen Steinwurf weit weg aufgewachsen bin und wo ich bis heute hinfahre, wenn ich anständige Wassermelonen kaufen will. Früher gab es hier auch noch Kokoreç, aber die Zeit scheint vorbei. Außerdem habe ich hier vor über zehn Jahren mein erstes eigenes Backgammon gekauft erspielt! bei einer Tasse Tee mit dem gemütlichen Ladenbesitzer. Und gutmenschig-abendlandsvergessen, wie ich bin, hoffe ich hier auf ein bisschen bunteres Leben (bei s/w-Fotos gar nicht so unwichtig). Hadi, gidelim...



Stehen und warten.

"Auf keinen Fall irgendwas, das anfängt mit: 'Ich warte auf den Bus'", wurde mir eingeschärft, als ich anfing, Radioandachten zu schreiben. Beim Fotografieren bleibt manchmal nichts anderes übrig, also stelle ich mich dezent an eine Friedhofsmauer, warte und versuche mir vorzustellen, was von dem, was ich da sehe, fotografierenswert wäre. Es dauert eine Zeit, aber irgendwann merke ich: Ich bin jetzt da. Ganz da, an dieser Straßenecke, bleibe mit den Gedanken in Sichtweite - und es wird immer schwieriger, mich für ein Motiv zu entscheiden, für eine Geschichte, die ich erzählen will. Denn es sind so viele! Da ist die alte Frau mit dem Einkaufswagen. Ich frage mich, was sie wohl eingekauft hat, ob sie für sich allein kocht, ob sie das überhaupt kann oder ob sie immer noch in Großfamilienportionen denkt und fühlt und schmeckt und kocht. Da ist der Kioskbesitzer, der mit einer Hingabe, wie ich sie nur bei Kopistenmönchen vorstelle, Getränkedosen in seiner Auslage drapiert. Alle mit dem Etikett nach vorn, Cola, Fanta, Sprite, Uludag, Reissdorf. Immer wieder dreht er eine um ein paar Grad, geht wieder raus und beäugt sein Werk, rennt wieder rein, tauscht zwei Dosen, kontrolliert das Ergebnis. Und lächelt. Die Welt ist voller Geschichten, "überall ist Wunderland", sagt Eric Kim, und ich traue mich noch viel weniger als vorher, irgendwelche Fotos zu machen - weil ich den Geschichten gerecht werden möchte. Und ihren Hauptfiguren.



Heimlich?

Ein Tipp aus meinem Street-Photography-Ratgeber, der mir mehr und mehr wie ein Exerzitienbuch vorkommt, lautet: "Tun Sie so, als würden Sie irgendetwas anderes fotografieren." Ich probiere es ein paar Mal - und es gelingt mir nicht. Weil ich analog fotografiere, merke ich das natürlich auch erst ein-zwei Wochen später. Aber auch dann trägt die Einsicht: Heimlich ist scheiße. Wie im Gottesdienst auch: Man kann eh nichts verstecken, also sollte man es möglichst gleich offen machen. Und wie sonst im Leben eigentlich auch. Die Bilder werden schlecht, verwackelt (and not in a good way), nichtssagend, leer, irgendwie, und flach. Trotz Tiefenschärfe und Festbrennweite und so. 


Ansprechend.

"Sprechen Sie Leute an, fragen Sie, ob Sie sie fotografieren können", so geht eine Aufwärmübung (hust) im Fotografierratgeber. Einen Teufel werde ich tun, denke ich. Wer weiß, wie die Leute reagieren. Wer weiß, was die dann für Fotos sehen wollen. Und ich kann sie noch nicht einmal zeigen. Also versuche ich weiter, mich möglichst unauffällig zu verhalten, heimlich unterwegs zu sein, eins mit dem Ort zu werden (auch so ein Tipp), mit der Menge zu verschmelzen... "Eeeey, fotografierst Du uns?!?!" röhrt es mir plötzlich entgegen, und mir bleibt fast das Herz stehen. "Äh, nein", rufe ich instinktiv in die Richtung, aus der das Rufen kam und aus der mir jetzt ein Vater mit seinem Sohn entgegen kommen. Kacke. "Nee, keine Angst", sage ich wieder beschwichtigend. "Warum nicht?!" fragt der Vater, fast ungehalten, "wir sind doch gut!" Und eigentlich hat er recht. Also wird eine kleine Fotosession eingelegt, mit der Exklusiverlaubnis traue ich mich,  näher ranzugehen. Ein bisschen gestellt wirkt es schon, aber wenn ich mir die Fotos angucke, sehe ich dahinter Geschichten. Vielleicht auch nur, weil ich sie kenne. Ich weiß, warum der Junge sein Trabzonspor-Trikot trägt, obwohl es zerrissen und ein bisschen zu klein ist. Ich weiß, was sie gerade in Köln machen, wo sie eigentlich irgendwo im Mittelfränkischen wohnen. Und ich weiß vor allem, wie tierisch stolz der Vater auf seinen Sohn ist. 

Nein, hier kommen jetzt keine Fotos, weil ich natürlich keine schriftliche und juristisch wasserdichte Erlaubnis habe, die Bilder, die mehr Portraits sind, zu veröffentlichen. Mit den Horden von Abmahnanwälten da draußen, die raubvogelgleich ihre Kreise ziehen, ist mir das zu haarig. Nächstes Mal. Vielleicht. 

Die beiden bleiben nicht die einzigen, die mir buchstäblich und in vollem Bewusstsein vor die Linse laufen, bei weitem nicht. Ganz ehrlich: Das hätte ich nicht gedacht. Denn, postmoderne Zeigewut hin oder her - sich von jemandem auf der Straße fotografieren zu lassen, ist etwas anderes als ein Selfie, denn es beinhaltet Kontrollverlust, und es heißt auch, den Blick von außen zuzulassen. Auch nach längerem Nachdenken ist mir nicht klar, was es für sie bedeutet, das Fotografiertwerden. Aber nach längerem Nachdenken ist mir immerhin aufgefallen, dass ich sie das ja auch einfach hätte fragen können. 

Dönüşte / bugün, dört ay sonra.

Auf dem Nachhauseweg rumort es in mir. Die Geschichten klingen nach, die Leute, die ich getroffen habe, die Erfahrungen mit dem missglückten Heimlichsein. Vor allem aber wird mir eins bewusst, und das nagt auch ein paar Monate später noch: Seit drei Jahren bin ich Pfarrer. Vorher war ich Vikar. Ich bin in diesen fünf Jahren nie (lies: überhaupt! kein! einziges! Mal!) in einer Situation gewesen, in der ich von Berufs wegen ungeschützt auf mir fremde Menschen hätte zugehen müssen, mir von ihnen eine Erlaubnis abgeholt oder ihnen einfach gesagt hätte: Ich möchte etwas von dir. Mit dir. Vielleicht auch für dich.
Selbst bei Angeboten oder Tätigkeiten, die sich durch vermeintliche Niederschwelligkeit auszeichnen sollten, ging es im Kern immer nur darum, dass die Leute schon von sich aus irgendwie kommen würden. Und ich frage mich, ob ein Großteil von dem, was wir so von "Offenheit", "Niederschwelligkeit" und dergleichen erzählen, in Wahrheit ganz, ganz großer Bullshit ist...

A propos #Mülheim: Da gibt es auch ein Kirchenprojekt, dass das mit der "Geh"-Struktur tatsächlich macht - die beymeister sind einer der ersten Versuche in Deutschland, fresh expressions zu gestalten. Hingucken lohnt sich, unterstützen auch!

Hurra, die Welt geht unter - Predigt über Jak 5,7-8

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Predigt zur Einführung in eine neue Pfarrstelle am 2. Advent 2015

Liebe Gemeinde, mit der Einführung eines neuen Pfarrers in der Adventszeit ist es so eine Sache. ”Seht auf und erhebt eure Häupter”, raunt es an den Tischen der Seniorenadventsfeier, ”seht auf und erhebt eure Häupter, weil - der neue Pfarrer ist da!” Er kommt, das ist ist der Kehrvers, der den ganzen Advent durchzieht, und gemeint ist (Gott sei Dank!) nicht der neue Pfarrer. 
Er kommt. Das raunen sich seit der Entstehung der ersten Gemeinden die Christinnen und Christen zu, als Ermutigung, als Anker in stürmischen Zeiten. So wie im fünften Kapitel des Jakobusbriefs: 

So seid nun geduldig, liebe Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. 

Er kommt. Advent. Advent, ein Lichtlein brennt. Der Abzählreim aus Kindermund, der Adventskranz des alten Wichern, kleine Geduldsübungen, gestaltetes Warten: Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, bis dann endlich das Christkind vor der Tür steht. Das Gute ist: Bei Weihnachten weiß man, dass es kommt, daran konnte vor einigen Jahren nicht einmal der Maya-Kalender etwas ändern, man weiß sogar genau, wann es kommt, bei mir mit ziemlicher Präzision einen Tag nachdem ich endlich geklärt habe, was für Weihnachtsgeschenke ich noch kaufen oder basteln muss. Er kommt. Aber gemeint ist nicht irgendein Geschenkelieferant, das Christkind ist längst erwachsen geworden und soll keine Playstation bringen, keinen Familien-Original-Benutzer, formschön, wetterfest, geräuschlos, hautfreundlich, pflegeleicht, völig zweckfrei. Sondern einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der kein Tod mehr sein wird und kein Leid und kein Geschrei, und das bitte möglichst bald. Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Also: Seid geduldig

 Ich bin das nicht. Wenn ich, wie so oft in diesen Tagen, von Köln nach Wuppertal fahre, trommle ich schon am Hildener Kreuz auf dem Lenkrad herum, irgendwo bei Haan-Ost zische ich durch die Zähne und spätestens am Sonnborner Kreuz singen sie im Radio „Hurra, die Welt geht unter“ und ich fluche laut vor mich hin. 

Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig. Manche hier im Uellendahl kennen das noch, als hier noch Höfe standen, bevor der Stadtteil dicht besiedelt wurde, als das Leben auf dem Döppers Hof, dem Haus Mirke, dem Wülfing- und Duckmauser Hof bestimmt war von der Abfolge von Saat und Ernte. 

Ich sähe nicht und ernte nicht, nicht im handgreiflichen Sinn, aber auch ich versuche, Geduld zu lernen und tue das mit Mehlstaub und Teigresten an Händen, Kleidern und Haaren. Ich habe bislang auf keiner Fortbildung, keinem Spiritualitäts- oder Achtsamkeitsworkshop so viel über Geduld gelernt wie beim Brotbacken. Also nicht mit Backmischung und Brotbackautomat, sondern so richtig mit Sauerteig, und das heißt vor allem: Warten, damit aus wenig viel werden kann. 



Ein Esslöffel Roggenmehl, zwei Esslöffel Wasser. 
Lauwarm. 
In ein großes Glas an einen warmen Ort gestellt. 
Und warten. 
Bis der Vorteig Blasen wirft. 
Das kann dauern. Zwei bis drei Tage. 
Alles Klopfen an das Glas bringt nichts, 
nur warm muss man es halten. 
In der Zwischenzeit geht das Leben weiter. 
Wenn der Ansatz aussieht wie helle Mousse au Chocolat, dann ist es Zeit. 
Für den nächsten Schritt. 
Das Brot ist noch mindestens einen Tag weit weg. 
Mehr Roggenmehl. Mehr Wasser. Und ein bisschen Weizen, wegen dem Kleber. 
Und: Warten. 
Ab und zu umrühren. 
Und: Warm halten. 
Am nächsten Tag mehr Mehl, Roggen und Weizen, ein bisschen Wasser. 
Und dann: Kneten. 
Bei Roggenmischbrot mindestens eine halbe Stunde, 
von Hand natürlich. 
Bis der Teig sich wieder von den Händen löst 
und die Schultern fast weh tun. 
Und dann: Warten. 
Drei-Vier Stunden. 
Und in der Zwischenzeit geht das Leben weiter. 
Und die Gärkörbe müssen vorbereitet werden. 
Dann den Teig zu Laiben formen, 
ein großes und ein kleines kommt bei mir raus. 
Rein in die Körbe, 
und wieder: Warten. 
Aber nur zwei Stunden. 
In der Zwischenzeit geht das Leben weiter, 
aber ich muss den Ofen vorheizen. 
Knallheiß, so viel es geht. 
Das dauert. 
Es gibt keine Abkürzungen, 
und leider auch keine absoluten Zeitangaben. 
Die Backzeit variiert, auf jeden Fall je nach Ofen 
und wahrscheinlich auch je nach Wetterlage und Mondphase. 
Von dem Tag aber und der genauen Stunde weiß niemand, 
auch nicht die Engel im Himmel, 
und es heißt wieder: Warten. 
Aber die Küche kann schonmal aufgeräumt 
und das Tuch für das Brot rausgeholt werden. 
Die Butter muss zimmerwarm werden. 
Von der genauen Stunde weiß niemand... 
Irgendwann ist es halt fertig, 
und das ganze Haus duftet vom frischen Brot, 
und die Butter zerfließt langsam 
auf dem dampfenden Knäppchen 
(oder wie auch immer sie das Endstück nennen) 
und ich schmecke und sehe: 
Es lohnt sich. 
Seid geduldig, bis der Herr wiederkommt. 

Seid geduldig, bis der Herr wiederkommt. Das durchzieht die Briefe des Neuen Testaments als Echo der Hoffnungen des Volkes Israel. Das raunen sich die ersten Christinnen und Christen zu, als Ermutigung, als Anker in stürmischen Zeiten. Und die lassen keinen Zweifel daran, dass die Geduld nicht unsere eigene ist, sondern dass dieser lange Atem von Gott selbst kommt. Gott hat einen langen Atem, Gott selbst ist geduldig. Zum Glück, denn sonst sähe die Welt wohl ganz anders aus. Leider, denn eigentlich müsste die Welt doch ganz anders aussehen? 

Bis der Herr wiederkommt. Es steht noch etwas aus. Die Welt ist noch nicht am Ende. Christus ist noch nicht fertig mit uns – Gott sei Dank. Denn am Ende ist alles gut, und solange nicht alles gut ist, es ist noch nicht das Ende. Und nichts ist gut. In Afghanistan. Nichts wird gut sein in Syrien, solange wir meinen, mit Waffen den Frieden schaffen zu können. Nichts ist gut an den Grenzen der Festung Europa. Und darinnen auch nicht. 

Manche spüren das deutlicher als andere, leiden an der Welt, wie sie ist, und wissen, dass es anders werden muss, wenn es gut werden soll: ER muss wiederkommen und richten. Ausrichten, wo das Ziel verfehlt wird, verrichten, was nur er tun kann: Das Krumme gerade biegen. Das Verlorene heimholen. Das Verletzte heilen. 

Manche spüren das mehr als andere, wir nennen sie, je nach Leitkultur und Stimmungslage, Prophetinnen oder Poeten, Künstlerinnen und Dichter oder sagen ihnen nach, sie seien nicht ganz dicht, wenn wir sagen: „Es ist doch alles ganz schön“, und sie sagen: „Eben nicht!“, die Knechte und Mägde, die Visionen haben und Träume träumen von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. An der Spitze der deutschen Albumcharts standen im Sommer K.I.Z. und sangen: „Hurra, die Welt geht unter“: 

Seit wir Nestlé von den Feldern jagten 
Schmecken Äpfel so wie Äpfel 
und Tomaten nach Tomaten 
Und wir kochen unser Essen 
in den Helmen der Soldaten 
Komm wir fahren in den moosbedeckten Hallen 
im Reichstag ein Bürostuhlwettrennen 
Unsere Haustüren müssen keine Schlösser mehr haben, 
Geld wurde zu Konfetti 
und wir haben besser geschlafen 
Ein Goldbarren ist für uns das gleiche 
wie ein Ziegelstein 
Ich zeig den Kleinen Monopoly, 
doch sie verstehn's nicht 
"100€ Schein? Was soll das sein? 
Wieso soll ich dir was wegnehm' wenn wir alles teilen?" 

Hurra, diese Welt geht unter / und unter Pflastersteinen wartet der Sandstrand / und auf den Trümmern wächst das Paradies / und heut nach denken wir uns Namen für Sterne aus. 

Geduldig, ja. Und beflügelt von Bildern wie diesen. 
Die Saat wächst von allein, 
nach Frühregen und Spätregen. 
In der Zwischenzeit: 
Werkzeuge reparieren, 
Scheunen leeren, 
Erntehelfer engagieren. 

Der Brotteig geht, ganz von selbst, 
ein bisschen Wärme reicht. 
In der Zwischenzeit: 
Schüsseln spülen, 
Arbeitsplatte putzen, 
Ofen vorheizen, 
Butter aus dem Kühlschrank holen 
und Leute zum Brotessen einladen. 

Seid geduldig, liebe Schwestern und Brüder, denn das Kommen des Herrn ist nah. Bald steht das Christkind vor der Tür, es ist erwachsen geworden und bringt einen neuen Himmel und eine neue Erde. 
In der Zwischenzeit: 
Herzen stärken. 
Mit den neuen Flüchtlingen am Röttgen Billard spielen, 
Deutsch lernen, Essen teilen, ohne zu wissen, wie lange sie bleiben. 
Gemeinsam sitzen bleiben, wenn es draußen dunkel 
und drinnen das Gespräch schwer wird. 
Zwischen Trümmern Brombeerbüschen beim Wachsen zusehen. 
Sich einen Namen für einen Stern ausdenken. 
Einen losen Pflasterstein hochheben 
und den Sandstrand darunter entdecken, 
und in den Spuren im Sand lesen, 
dass wir nie allein waren: 
Er, der kommt, ist immer schon da gewesen. 
Seid nun geduldig. 
Es lohnt sich. Seht auf und erhebt eure Häupter... 

Heilige Familie - Christnacht queer 2015

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Am Ende des Jahres steht sie im Wohnzimmer,
aus Keramik oder Holz,
inmitten süddeutsch anmutender Stallromantik,
wir holen sie raus,
stauben sie ab,
stellen sie hin,
singen sie an:
Die Heilige Familie.
Eine Frau, ein Mann,
und ein Kind,
holder Knab‘ mit lockigem Haar
und Heiligenschein.

Landauf, landab wird sie beschworen,
bei den selbsternannten Rettern
des Abendlands,
sie zeigen sie vor,
halten sie hoch,
beten sie an:
Die Heilige Familie.
Eine Frau, ein Mann,
und 1,38 Kinder, durchschnittlich,
holder Knab‘ mit lockigem Haar oder
liebreizendes Mädel mit strengem Zopf
und glänzenden Zukunftsaussichten.

Am Ende des Jahres sitzt sie im Wohnzimmer,
aus Fleisch und Blut,
inmitten einer Wolke aus Old Spice und Kölnisch Wasser.
Wir laden sie ein,
füttern sie durch,
halten sie aus,
zweifeln sie an:
Die Heilige Familie.
Eine Frau, ein Mann,
Kinder und Enkelkinder,
Schwippschwägerinnen und Cousins
und Oma und Onkel Karl,
und deine alte Großtante
- Moment, ich dachte: Deine alte Großtante?!
Faltiges Haupt mit silbernem Haar,
und das Christkind kommt erst in die Krippe,
wenn wir in der Kirche waren,
und Oma legt es selbst rein.
Dann wird gegessen,
dann sehen wir uns die Weihnachssendung im dritten Programm an,
dann gibt es Bescherung,
und dann wird es gemütlich.



Wir schenken uns ja nichts.
Wir schenken uns wirklich nichts.
„Also, wir machen den Rotkohl ja immer selbst. Aber jedem das Seine.“
„Sag mal, Junge, warum hast Du denn immer noch keine Freundin?“
„Früher war mehr Lametta.“
„Sag mal, ist deine Vorstrafe eigentlich verjährt oder wie das heißt?“
„Hast Du eigentlich zugenommen?“
Wir schenken uns nichts.
Und im Schein der Heiligen Nacht scheint mancher Heiligenschein
doch sehr scheinheilig zu sein.
Und es riecht nicht nach Zimt, sondern nach verbrannter Erde.
Und mittendrin steht die Krippe aus dem Erzgebirge,
und die hat beim letzten Umzug gelitten:
Josef hat nur einen Arm,
die Heiligen drei Könige haben ihre Geschenke verloren,
und die Futterkrippe ist weg,
und das, wo Oma doch gleich das Jesuskind reinlegen wollte.

Aber die Krippe stimmt eh nicht.
Sie ist zu schön.
Christ ist geboren,
aber nicht in weißgetünchtem Stall in Oberbayern,
sondern in einer Höhle zu Bethlehem,
und es roch nicht nach Zimt oder Glühwein oder Gänsebraten
oder nach Old Spice und Kölnisch Wasser,
sondern nach Schafmist und Schweiß,
nach stockigen Kleidern und schnellem Aufbruch.
Freue dich, o Christenheit,
denn alle Jahre wieder kommt das Christuskind,
auf die Erde nieder,
wo wir Menschen sind.
Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus,
auch, wenn es nicht nach Zimt riecht,
sondern nach Einsamkeit und kalten Zigaretten,
nach Kummer und Kümmerling,
und vor der Tür stehen nicht die Weisen aus dem Morgenland,
sondern die Abschiebeamten aus dem Abendland.
Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Und die Krippe stimmt eh nicht.
Sie ist zu klein,
obwohl sie größer sein kann,
sein müsste:
Eine Frau, ein Mann,
holder Knab mit lockigem Haar,
ein paar Hirten, drei Könige,
aber es fehlen ein paar,
es fehlt die ganze Welt.
Freue dich, o Christenheit,
denn das erwachsene Christkind wird sagen:
Wer sind meine Mutter und meine Geschwister?
Wer Gottes Willen tut, der ist meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester.
Die Heilige Familie ist Wahlverwandtschaft.
Nicht ihr habt mich erwählt, wird das erwachsene Christkind sagen,
sondern ich habe euch erwählt.
Die Heilige Familie ist Patchwork:
Das Christkind ist unehelich,
seinen Vater hat nie jemand gesehen.

Und die Krippe ist kaputt.
Josef hat nur einen Arm,
die Heiligen drei Könige haben ihre Geschenke verloren.
Und das Christkind hat nichts, auf das es sich betten kann.
Und Oma steht auf, feierlich,
nimmt das Christkind,
geht zur Krippe – und stutzt.
Nimmt den Aschenbecher vom Tisch,
stellt ihn in den Stall,
legt das Christkind rein,
tritt einen Schritt zurück.
Sie nickt, und sie lächelt,
und sagt zufrieden:

„Jetzt stimmt es.“

Weihnachten schmutziggraubraun. Es taut. Titus 3,4-7. Und ein Lied.

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Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes, machte er uns selig - nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit - durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.
(Titus 3,4-7)

(c) pixabay.com

Dreaming of a white Christmas


Er hält sich hartnäckig, der Traum von einer weißen Weihnacht,
es soll wieder so sein, wie es früher eigentlich auch selten gewesen ist.
Leise rieselt der Schnee,
legt sich gnädig und verhüllend
wie eine weiche Decke
über die Welt mit ihren Rissen und Schlaglöchern,
über unser Leben mit seinen Ecken und Kanten,
soll das Schroffe zudecken und weichzeichnen,
das Hässliche verstecken
die Schritte dämpfen,
der Stadt den Glitzer der Unberührtheit schenken,
die sie sonst nicht hat.
Wir legen uns in den Schnee, wedeln mit Armen und Beinen,
stehen auf und zeigen auf den Boden und sagen:
Engel gibt es doch.


Amtlich: Weihnachten schmutziggraubraun


Am 15. Dezember war es so gut wie amtlich. Die Rheinische Post meldete:
"Genau kann man das jetzt noch nicht sagen, aber der Weihnachtstrend sieht so aus, dass es doch eher mild wird", sagt Maria Hafenrichter vom Deutschen Wetterdienst. Mit Niederschlägen dürfe zwar gerechnet werden – allerdings in Form von Wasser. Schnee und Frost seien nicht in Sicht. Das Weihnachtswetter liegt laut Expertin bei rund zehn Grad.“

Heute wissen wir: Die Wetterpropheten hatten recht.
Kein Schnee, der leise rieselt, der See liegt nicht still und starr, sondern kräuselt sich unter herbstwarmem Regen und gänzlich unweihnachtlichen Windböen, und die Wupper fließt sowieso ungerührt weiter. Weihnachten in Wuppertal 2015 ist nicht weiß.

Die erste Weihnacht in Bethlehem war auch nicht weiß. Müsste man ihr eine Farbe geben, wäre sie vielleicht
schmutziggraubraun:
Holzbretter,
Lehmboden,
staubiges Stroh,
ungefärbtes grobes Leinen,
ungewaschenes Schaffell,
eingetrocknetes Blut.
Und mittendrin: Der Retter der Welt.
Der König kommt in niedern Hüllen.

(c) pixabay.com

Klimatische Gebetserhörung


Vielleicht sind wir es ja selbst schuld. Die Erde fiebert unter den Händen der Menschen, das Klima wandelt sich, und die Sonne blickt böse. Vielleicht sind wir es aber auch selbst schuld, weil unsere Gebete erhört wurden – all unsere Gesänge der letzten Wochen, vom Tau und Regen– „o Heiland, reiß die Himmel auf, o Herr, ein Tau auf Erden“, „Tauet, Himmel, den Gerechten...“ 
So wie damals, als es zum ersten Mal Weihnachten wurde, als erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes. Als der Himmel offen stand, Engel die Erde besuchten, die Sterne ihren Lauf änderten und der erste Schrei eines neugeborenen Kindes eine neue Zeitrechnung ausrief. Und es taute.
Die Welt war schmutziggraubraun,
aber Gefrorenes schmolz,
Festes wurde weich.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und Gottes Wort wird nicht leer zu ihm zurückkehren,
sondern es wird ihm gelingen, wozu er ihn sendet.

Die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes kommt nicht leise und sanft wie der Schnee, sondern nass und ungestüm wie der feuchte Schmatzer eines kleinen Kindes, wie ein Regenguss nach langer Dürre. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln! Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen, heißt es in Psalm 84. Wie ein Wolkenbruch überzieht sie die Welt, sucht sich einen Weg durch Ritzen und Löcher und wird zum Bad der Wiedergeburt und Erneuerung, in dem alte Verkrustungen abgewaschen werden und das neue Leben begossen wird.
Möglich, dass das im ersten Moment erschreckend wirkt, unweihnachtlich auf jeden Fall.
Denn wie die platzregende Gnade Gottes Menschen mitreißt, kann sie auch einreißen und wegschwemmen.
In der Bibel erschrecken die Menschen immer wieder, wenn Gott plötzlich auf den Plan tritt – ähnlich wie die Hirten in der Weihnachtsgeschichte. Denn wo Gottes Freundlichkeit und Menschenliebe die Erde tränken, so ungestüm, undosiert und vorbehaltlos – da erscheint auch vieles, was wir als Zeichen der Freundlichkeit und Menschenliebe deuten, plötzlich dürr und morsch wie ein Haus, dessen Fundamente vom Regen ausgehöhlt werden. Wo der Schnee zudeckt, wo die starken Bilder von Weihnachten, unsere Sehnsüchte von einer heilen Welt, die wir mit unseren Mitteln zumindest an Heiligabend unter dem Lichterbaum herzustellen versuchen, die Schroffe der Welt verstecken und weichzeichnen sollen, da reißt Gottes Weihnacht wie ein Monsun das um, was auf Sand gebaut ist – aber schafft damit eben auch Raum für neues, gesundes, tragfähiges Leben.
Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes, machte er uns selig - nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit
Im Großen ist das vor fünfhundert Jahren geschehen, als Martin Luther und mit ihm viele andere die Freundlichkeit und Menschenliebe in den Worten der Bibel neu fanden und sich in der Folge von vielen Praktiken ihrer Kirche, die handgemachtes Heil versprachen, trennten. Im Kleinen geschieht das überall dort, wo Gottes Freundlichkeit und Menschenliebe Menschen dazu befähigt, aus religiösen oder gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen.
Die Welt war schmutziggraubraun,
denn es taute:
Gefrorenes schmolz,
Festes wurde weich.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und Gottes Wort wird nicht leer zu ihm zurückkehren,
sondern es wird ihm gelingen, wozu er ihn sendet.

Sie waren von Karlsruhe nach Oberfranken gekommen. Nach einem Ausflug suchte das Paar schließlich nach einem Lokal - und fand einen alten Gasthof. Dort ließen sich die beiden Touristen bedienen, es gab Brot, Marmelade, Eier, Käse und Tee. Dann verlangte der Mann nach der Rechnung, doch die bekam er nicht. Denn die vermeintlichen Köche und Kellner waren Flüchtlinge, und das Restaurant in Wahrheit ein Asylbewerberheim.
So erfuhren die Gäste erst nach der Mahlzeit, dass sie in keinem Restaurant gelandet waren: Das ehemalige Wirtshaus im oberfränkischen Zapfendorf ist längst außer Betrieb, seit Monaten leben dort Migranten aus Krisengebieten. Einer davon bediente das Paar trotzdem. "Ich sagte: Kommen Sie herein, machen Sie es sich bequem, fühlen Sie sich wie zu Hause", sagte Kawa Suliman nun über die Szene.
Die 68 Jahre alte Frau sagte dem "Fränkischen Tag", sie hätten geglaubt, die Flüchtlingsunterkunft sei noch immer eine Wirtschaft. "Der junge Mann, der nach unseren Wünschen fragte, war so nett - so nette junge Gastronomen muss man doch unterstützen." Die Asylbewerber um den 30-jährigen Kawa Suliman reagierten spontan. "Wir stellten den Tisch voller Essen", sagte Suliman. Als sich herausstellte, dass das hungrige Paar in einer Flüchtlingsunterkunft gelandet war, sei sie zu Tränen gerührt gewesen, sagte die Frau. (SPON)

Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, machte er uns selig.  Und die Welt ist schmutziggraubraun, und es taut. Gefrorenes schmilzt, Festes wird weich. Und Gottes Wort wird nicht leer zu ihm zurückkommen, und ihm wird gelingen, wozu er es sendet. Heute wissen wir: Die Propheten hatten recht. Und Engel gibt es doch.

„Herr“, fragt ein zeitgenössischer Dichter,
„es regnet, was 
soll man tun
und seine antwort wächst
grün durch alle fenster ...“

Liebe Gemeinde,
er hält sich hartnäckig, der Traum von einer weißen Weihnacht,
es soll wieder so sein, wie es früher eigentlich auch selten gewesen ist.
Leise rieselt der Schnee,
legt sich gnädig und verhüllend
wie eine weiche Decke
über die Welt mit ihren Rissen und Schlaglöchern,
über unser Leben mit seinen Ecken und Kanten.

Aber das erste Weihnachten in Bethlehem war nicht weiß, und auch Weihnachten in Wuppertal 2015 ist nicht weiß. Müsste man ihm eine Farbe geben, wäre sie vielleicht schmutziggraubraun: Nasser Asphalt, Matschflecken auf Wiesen und Wegen, Hundehaufen, aufgeweichtes Altpapier. Schmutziggraubraun, aber auch: Ein bisschen grün. Der König kommt in niedern Hüllen. Gott sei Dank.

Amen.



Hitlergrüße und Ratlosigkeit - Demonstrieren im Bergischen

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Die Wuppertaler Initiative für Demokratie und Toleranz, dem auch der evangelische Kirchenkreis angehört, hatte zur Gegendemo vor dem Barmer Rathaus gerufen. Anlass war die angekündigte Kundgebung von Pro Deutschland, die sich gesamtbergisch aufstellte und, wohl mangels Masse, zunächst in Remscheid, dann in Wuppertal demonstrieren wollte. Wofür, wogegen – wer weiß das schon, oder besser: Wayne interessiert’s. Eine knappe Stunde vor dem geplanten Auftritt der braunen Brüder geben sich erste Vertreter beider Seiten ein Stelldichein bei strahlendem Frühlingswetter. An der Drogeriekasse vor mir ein Nazi, also so ein richtiger, wie in den guten alten Zeiten, als gewitztere Rechtsüberholer sich noch nicht anzogen wie die Antifa: Bomberjacke, kahler Schädel, Runentattoos auf dem Fingern. Er hält der Kassiererin einen Deoroller entgegen und nöhlt: „Hamse den auch in sensitiv? Ich hab so empfindliche Haut.“ Na, wenn das der Führer wüsste. Draußen auf dem Alten Markt wiederum versammelt sich die Autonome Linke oder wer auch immer, auf jeden Fall demonstrationswillige Jugendliche in ebenfalls traditioneller Montur. Man diskutiert aufgeregt durcheinander, gibt Schätzungen ab über die Teilnehmendenzahl der Rechten und dergleichen. Irgendwann fährt sich eine mit der Hand durch den türkisen Irokesenschnitt, stöhnt: „Ich brauch jetzt erstmal einen Latte Macchiato“, und stapft Richtung Bäckerei. Es ist nicht wie früher.


ES IST NICHT WIE FRÜHER



„Es ist nicht wie früher“, stellen wir auch fest, als wir, wackere Vertreter_innen der Gemeinde mit Anhang, uns brüder- und schwesterlich eine noch schnell eingekaufte Packung Ohropax teilen. Sagt mir, was ihr rumgebt, und ich sage euch, wie alt ihr euch fühlt. Es ist aber auch laut mit all den Trillerpfeifen, die ein netter Mensch kurz vorher gratis verteilt hat. Meine ist knallpink, und die Kolleg_innen sind neidisch. Laut ist sie auch. Also die Pfeife. Die Kolleg_innen nicht minder – gut so. Ohnehin ist es laut im Kreise der Demonstrierenden, es wird gepfiffen, was das Zeug hält, und zwischendurch geschrien. Das macht Stimmung, aber sie ist eine andere als zum Beispiel beiden großen Demos in Köln.„Also, in Köln war immer auch Musik“, quengele ich ein bisschen, auch auf Facebook. Ein Presbyter meint dazu lakonisch: „Wir in Wuppertal sind halt ein etwas pietistisch.“ Ist ja auch gut so. Die Fähigkeit, jede Gelegenheit in einen Karneval zu verzaubern, ist trotzdem nicht zu verachten. 


Plötzlich schwillt das Pfeifkonzert an. Über den Köpfen der vor mir stehenden sehe ich weiße spitze Hauben. Der Ku-Klux-Klan, schnellt es durch den Kopf, aber es sind nur die Spitzen eines Pavillons, der gerade von der selbsternannten Bürgerbewegung aufgebaut wird. Auch das erscheint mir typisch bergisch: Es gibt einen Infostand. Eine Mitdemonstrantin sagt ungläubig: „Bah…“, und macht dabei ein Gesicht, als habe sie etwas sehr Ekelhaftes gesehen. Hat sie auch, ProDingsbums hat soeben ein Plakat entrollt: „Rapefugees not welcome“. Bäh. 

BIZARRE BILDER MIT POLIZEILICHEM IMPRIMATUR



Die Botschafter aus braunen Tiefen bieten ein bizarres Bild. Da stehen die üblichen Verdächtigen, verlorene Gestalten in Klamotten, von denen Ottonormalverbraucher wahrscheinlich gar nicht weiß, wo man sie bekommt – Bomberjacken, Armeegedöns. Bierpullen in der Hand, und man sieht förmlich, wie sie riechen. Bemerkenswert viele (so man bei dem Häufchen überhaupt von „viel“ sprechen kann) Frauen sind dabei, unter anderem eine ältere, offensichtlich gut situierte Dame, die ihren Nerz spazieren führt, sich angeregt mit einem der Rädelsführer unterhält und irgendwann, und das ist einer der bizarrsten Momente des Tages, anfängt zu tanzen. Überraschend sind die Koalitionen, die hinter dem Antikrawallzaun zu sehen sind. Einträchtig stehen Anzugträger und Pelzdame neben all denen, von denen sie sich sonst tunlichst fernhalten. Wer Augen hat zum Sehen, der sehe! 




Nicht nur rein farblich sticht ein grobschlächtiger Mensch in orangefarbenem Kapuzenpulli hervor: Mehrfach hebt er die Hand zum „deutschen Gruß“, merkwürdig unbelästigt von den zwanzig, dreißig oder auch vierzig Ordnungshütern, die die großflächig abgesperrte Demonstrationsfläche säumen. 
Überhaupt macht die Polizei das Bild noch schräger, als es ohnehin schon ist: Direkt hinter den Demonstranten, am Durchgang zwischen Rathausplatz und Heubruch, stehen zwei Hundertschaftswagen. Ein, zwei Demonstranten lehnen sich lässig an die Einsatzfahrzeuge. In Köln durften die das nicht – die Stadt Wuppertal sollte sehr darauf achten, was für Bilder sie hier produziert. Von Weitem sieht das nämlich ganz so aus, als unterstütze die Polizei das, was hier passiert, wofür die braune Meute steht. Vor dem Rathaus, in dem Johannes Rau dereinst residierte.


Mit Ruhm bekleckert sich die Polizei auch nicht, als eine Mitdemonstrantin einen brandzwiebackpackungsgesichtigen Wachtmeister aufgeregt auf den gleich mehrfach gezeigten Hitlergruß aufmerksam macht. „Ich kann ja weder etwas sehen, noch etwas machen, solange Sie hier stehen und mich anschreien“, ist seine (sinngemäße) Antwort. Es muss erst ein weiterer Mitdemonstrant auf ihn einreden, und es muss es ihm erst gesagt werden, dass es sich bei diesem Mitdemonstranten um den Oberbürgermeister Andreas Mucke handelt, bis man tätig wird. Allerdings wird der Hitlergrüßende nicht verhaftet, wie die WZ noch am Nachmittag meldete; die Polizei beschränkt sich darauf, seine Personalien aufzunehmen. Die ganze bizarre Situation ist übrigens auch auf Video gebannt:



Irgendwann versinkt die ansonsten unpassend strahlende Nachmittagssonne hinterm Rathaus. Die Versammlungen lösen sich auf. Übrig bleibt Ratlosigkeit. Und ein ganz und gar nicht guter Gesamteindruck. Auf der Facebookseite der WZ schreibt eine Leserin: „In Wuppertal läuft gewaltig etwas schief.“ Und, wie wir spätestens seit der Hessenwahl wissen, in Deutschland überhaupt.

Was, wenn er käme...? Predigt über Joh 12,1.9-19 (Palmsonntag)

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Sechs Tage vor dem Passafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den Jesus auferweckt hatte von den Toten. Da erfuhr eine große Menge der Juden, dass er dort war, und sie kamen nicht allein um Jesu willen, sondern um auch Lazarus zu sehen, den er von den Toten erweckt hatte. Aber die Hohenpriester beschlossen, auch Lazarus zu töten; denn um seinetwillen gingen viele Juden hin und glaubten an Jesus. Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme,nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach. 

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie es war in Jerusalem. Eine Menschenmenge hat sich auf den Weg gemacht, um Jesus in der Stadt zu begrüßen. Ein aufgeregtes Summen liegt in der Luft. Da sind einige, die ihm schon begegnet sind. Da werden einige sein, die nur mal gucken wollen. Vielleicht erhoffen sich andere etwas für ihr ganz eigenes Leben, ein Wort, das sich wie Balsam über die Seele legt, vielleicht ein kleines Zauberkunststück oder auch ein größeres. Irgendwo am Rand steht Lazarus, der schon gestorben war. Wer Lazarus vom Tod aufwecken konnte, der schafft das vielleicht auch bei meiner Tochter, meinem Vater, meiner Frau… 

Und Lazarus war nicht der Einzige. Da war noch der Sohn des königlichen Beamten. Da war auch dieses Hochzeitsfest in Kana, gegen Abend am toten Punkt angekommen, der Wein alle, die Stimmung am Boden – und dann kam Wein in die Wasserkrüge und Leben in die Bude. 

Tote werden lebendig, Wasser wird zu Wein – die Dinge sind nicht mehr, wie sie waren. Und überall im Volk wächst die Hoffnung auf bessere Zeiten, wächst aus einem kleinen Senfkorn, durchbricht den Asphalt und die staubigen Straßen, die Wüste blüht, was längst verdorrt und tot schien, erwacht zu neuem Leben. Und alles macht sich auf zum großen Fest der Befreiung. 

Ein aufgeregtes Summen liegt in der Luft, wie vor einem Gewitter, man weiß, dass die Mächtigen der Stadt Pläne schmieden, um diesen Jesus los zu werden – wer die Augen und Ohren offen hat in Jerusalem in diesen Tagen, der weiß: Es läuft auf eine Entscheidung hinaus. Sie oder er. Und die Menge hat die Seite gewählt, hat die Entscheidung schon getroffen: Sie nehmen sich Palmzweige, im antiken Israel fast so etwas wie Nationalfahnen, sie gehen ihm entgegen, wie man einem hohen Würdenträger entgegengeht, und sie rufen „Hosianna“, wie man es einem König entgegen ruft, ihrem König, von dem sie hoffen, dass er sie befreit von römischem Militär und religiösen Eliten, dass er seinen Platz einnimmt in seinem Palast, wie im Himmel, so auf Erden. Ein starker Mann, der mit starker Hand regiert. Und die Menge jubelt und wedelt mit ihren Palmzweigen, und endlich ruft man von ganz vorn: Er kommt! Und die Menschen stellen sich vor, wie er wohl aussehen wird, ob er auf einem Pferd kommt oder sogar in einem großen Streitwagen in strahlender Rüstung. 

Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf. 



Möglich, dass hier schon die ersten ihre Palmenzweige sinken lassen, betroffen zu Boden gucken, verstört und peinlich berührt von dem seltsamen Anblick, von diesem seltsamen Menschen, der unerträglich langsam und so bestürzend unauffällig angeritten kommt. Möglich auch, dass hier die Stimmung schon zu kippen beginnt. Keine Woche später wird sich in Jerusalem wieder eine Menge zusammenrotten, wird gröhlen und schreien: Kreuzige ihn, und die Palmzweige werden zu Ruten und Peitschen. 

Es ist ja nicht das erste Mal, dass er Erwartungen an ihn enttäuscht. Da ist diese Geschichte mit der Frau, die wegen Ehebruchs verurteilt wird und gesteinigt werden soll. Und sie bringen diese Frau zu Jesus, die Pharisäer und Schriftgelehrten, und erwarten eine gelehrte rechtswissenschaftliche oder theologische Debatte. Die Schriftgelehrten hoffen, dass er sie verliert, die Jünger hoffen, dass er sie gewinnt. Und drumherum stehen die Leute, ein Teil hofft vielleicht, dass er die Frau mit großer Geste befreit, ein anderer Teil hofft vielleicht, dass endlich die Steinigung anfängt. Auf jeden Fall: Die Stimmung ist angeheizt, die Spannung fast unerträglich. 

Jesus aber bückte sich und malte mit dem Finger in den Sand. 

Nicht erst seit Palmsonntag haben aufgebrachte Volksmassen etwas Bedrohliches. Vor ein paar Wochen standen wir bei strahlendem Sonnenschein und klirrender Kälte auf dem Rathausplatz in Barmen. Auf der einen Seite stehen wir. Menschen aus Wuppertal, Jung und Alt, ein paar Pfarrerinnen und Pfarrer, Politiker, mit Fahnen und Spruchbändern, die für Demokratie und Toleranz werben. Wir haben Trillerpfeifen. Auf der anderen Seite stehen die anderen und gröhlen. ProDeutschland nennen sie sich, und stehen doch gegen alles, was Deutschland zur Heimat macht: Ein paar Lokalpolitiker, eine alte Frau im Pelzmantel, drumherum Nazis, wie man sie von früher kennt: Kahle Köpfe, Runentätowierungen auf den Fingerknöcheln, Springerstiefel, Bierdosen in der Hand. Sie schwenken Fahnen, schwarz, rot, gold. 



Mittendrin ein grobschlächtiger Glatzkopf in orangefarbenen Kapuzenpulli. Er hebt den rechten Arm zum deutschen Gruß, hält ihn oben, seine Kumpels feixen, die Polizisten stehen teilnahmslos herum. Jemand muss doch kommen und was tun! 

Und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn er käme. In diesem Moment, auf den Rathausplatz in Barmen. Er würde sich nicht zu der gröhlenden Meute mit den Deutschlandfahnen gesellen, da bin ich mir mehr als sicher, und wenn man ihn fragte, würde er vielleicht erklären, dass er mit dem so genannten christlichen Abendland nicht das Geringste zu tun hat, und dass man sich bitte einen anderen Namen für dieses biologisch reine Alptraumland ausdenken soll. Aber wenn ich die Geschichte vom Einzug nach Jerusalem noch einmal lese, werde ich immer unsicherer, ob er sich einfach so zu uns stellen würde. Ich bin mir immer noch sehr sicher, dass wir, die Presbyterinnen und Presbyter, Pfarrerinnen und Pfarrer dieser Gemeinde, auf der richtigen Seite standen, vor einigen Wochen in Barmen, auf der einzig möglichen Seite stehen, wenn wir unsere Stimmen gegen Nationalflaggen und Hitlergrüße und fremdenfeindliche Parolen erheben. 

Wir würden ihn freundlich begrüßen, bejubeln, unsere Gewerkschafts- und Regenbogenfahnen schwenken, würden vielleicht sagen: Endlich! Aber wer weiß, ob er sich einfach so zu uns stellen würde. 

Vielleicht setzt er sich mitten auf den Platz, mitten in die Knautschzone zwischen Polizisten und Absperrgittern, holt eine Packung Kreide aus seinem Gewand und fängt an zu malen. 

Vielleicht hält er ein kleines Mädchen aus Syrien an der Hand und sagt, in keine bestimmte Richtung, aber so, dass es jeder auf dem Platz hören kann: Wer so ein Kind aufnimmt, der nimmt mich auf. 

Vielleicht dreht er sich zu uns und sagt: Steckt Eure Trillerpfeifen in die Tasche. Denn wer die Trillerpfeife zieht, der wird durch die Trillerpfeife taub werden. 

Vielleicht geht er zu dem grobschlächtigen Mann im orangefarbenen Kapuzenpulli, der immer noch die Hand zum deutschen Gruß erhoben hat, drückt seinen Arm sanft hinunter und sagt: Heute will ich in deinem Haus zu Gast sein. 

Vielleicht reitet er auf einem Eselchen oder fährt auf einem stinkig knötternden Motorroller unerträglich langsam, und wir würden unsere Fahnen und Trillerpfeifen enttäuscht sinken lassen. 

Jesus fand einen jungen Esel und ritt darauf. 

Mit keiner Silbe widerspricht er dem jubelnden Volk, das tut er nie, wenn sie von ihm als König reden. Aber er macht gleichzeitig klar: Ich bin ein anderer König als den, der Ihr Euch vorstellt. Ich lasse mich nicht einfach so von Euch auf eine Seite ziehen. Und selbst seine Jünger haben Schwierigkeiten, das zu verstehen, erst im Nachhinein, nach Ostern, lassen sie das Geschehene, und auch den Einzug nach Jerusalem, Revue passieren und verstehen. 



Liebe Gemeinde, ab heute geht es in die Karwoche, die „stille“ Woche, sagt man auf Schwedisch. Und vielleicht ist das dran: Die Palmwedel sinken lassen, und unsere Erwartungen an Jesus, an Gott, sinken lassen, nicht runterschrauben, sondern ganz bewusst beiseitelegen und sehen, was passiert. Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren. Jesus kommt, das ist so ziemlich das Einzige in dieser Predigt, dessen ich mir wirklich sicher bin. Er kommt am Ende aller Tage, um das Verlorene heimzuholen. Aber er kommt auch jetzt schon dorthin, wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind. Er kommt anders, als man denkt. Anders, als ich es mir wünsche, er tut Dinge, die wir uns nicht hätten vorstellen können. Gott sei Dank. 
Vielleicht ist das dran in dieser Karwoche. Den Palmwedel niederlegen und mit leeren Händen still werden und gucken, was kommt. Irgendwo steht Lazarus. Irgendwo auf dem Boden Spuren und Schriftzeichen im Sand. Irgendwo alte Wasserkrüge, die plötzlich voller Wein sind. 

Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sagt Jesus. Gott sei Dank.

Als der Tod sie nicht mehr alle hatte... Ein Osterspielt mit Tod und Pudel

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PLOT
Im Büro des Todes feiert dieser die erfolgreiche Erledigung eines prestigevollen Auftrags: Den Tod Jesu von Nazareth. Die Feierstimmung wird unterbrochen von seinem Pudel, der ihn auf das Geschehen am Grab Jesu hinweist: Die drei Frauen entdecken das leere Grab, zwei Engel verkündigen ihnen die Auferstehung Jesu. Die Frauen verlassen das Grab und kehren mit Petrus und Thomas zurück. Dort zeigt sich ihnen der Auferstandene und beauftragt sie mit der Verkündigung des Evangeliums in aller Welt. Als die Frauen und Jünger freudig in die Welt ziehen, besucht Jesus den Tod, überreicht ihm ein mittelmäßiges Zeugnis und erklärt, dass seine Werke keinen Bestand haben werden.

PERSONEN:
TOD – in schwarzer oder brauner Kutte, mit Sense: Typische Darstellung, aber nicht zu gruselig. Angeberisches, übermäßig selbstsicheres Auftreten, am Ende aber ein Verlierertyp. Requisiten: Sense, Akte, Schreibzeug
PUDEL – Ganzkörperkostüm weiß und/oder rosa, flauschig – optisch comic relief, inhaltlich Stimme der Vernunft und Bedenkenträger im Büro des Todes.
Requisiten: Zeitung
MARIA 1 – Typisch „biblisches“ Gewand (einfaches knöchellanges Kleid oder Mantel, Kopftuch oder Kopfbedeckung) in blau (Mutter Jesu); traurig, aber realistisch. Requisiten: Gartengeräte
MARIA 2 – Ähnliches Gewand wie MARIA 2, aber rot (Magdalena). Leidenschaftlich, daher besonders traurig am Anfang und besonders hoffnungsvoll und freudig am Ende. Requisiten: Grabgesteck
MARIA 3 – Ähnliches Gewand in anderer Farbe, ruhig und handlungsorientiert. Requisiten: Grablichter
ENGEL – In weißen Gewändern, Flügel und Heiligenschein.
PETRUS – ruppiger, hitziger Typ in Anglerklamotten (Regenjacke und Südwester) oder unauffälliger bräunlich-gräulicher Kleidung. Requisiten: Weißes Handtuch.
THOMAS – ruhiger und zögerlicher als Petrus.
JESUS – typische Darstellung: Weißes Gewand, lange Haare, Bart, deutlich sichtbare Wunden an den Händen. Requisiten: Blatt Papier.

BÜHNENBILD
An linker Wand bemaltes Bettlaken (leeres Grab, schwarzes Loch und Landschaft), Stein aufgemalt oder modelliert an der Wand lehnend. Mittig vor Altar: Schreibtisch mit Büro- und Besucherstuhl, auf dem Schreibtisch ein paar Akten(ordner), ein großer Stempel, Schreibzeug.






Auftritt TOD. Setzt sich an seinen Schreibtisch.

TOD
singt laut und falsch
So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der dürfte nie vergehn…

Auftritt PUDEL. Setzt sich auf Besucherstuhl.

PUDEL         
Was ist denn mit dir los? Du bist ja völlig aus dem Häuschen!

TOD
Ich habe heute einen Großauftrag erledigt!

Knallt einen großen Stempel auf ein Formular

Ha! Erledigt und ausgeführt!

Reicht Pudel eine Akte.

Hier, das kannst du abheften. Und dann wird angestoßen!

PUDEL
Liest aus Akte vor:
Jesus, Sohn des Josef, geboren in Bethlehem, Familienstand: Ledig, Nächste Angehörige: Mutter Maria, Maria Magdalena, Freunde Petrus, Andreas, Zachäus,… Beruf: Schreiner… War der nicht was anderes?

TOD
Ha! Das haben sie alle gedacht. Gottes Sohn und so. Aber am Ende kriege ich sie doch alle! Zu den Akten mit ihm. 

PUDEL
Du warst zwischendurch aber selbst ganz schön nervös, gib’s zu! Als er dir die ganzen Leute vor der Nase weggeschnappt hat – die Kranken und Hungrigen. Und diesen Lazarus erst…

TOD
Geschäftsschädigendes Verhalten! Aber: Am Ende kriege ich sie doch - meine Erfolgsquote liegt bei hundert Prozent, das soll dieser Wanderprediger mir erstmal nachmachen! Aber der macht jetzt nichts mehr. Wenn ich mal ein Buch schreibe, dann wird das der Titel: „Vom Messias zur Karteileiche. Die größten Erfolge des Todes.“ Das wird ein Beststeller! 

Hält kurz inne und grinst dann zufrieden.

Und den Lazarus hole ich mir als nächstes! 

Kritzelt etwas auf einen Zettel.

PUDEL
Aber dann bitte etwas sanfter. Diesen Jesus hast du dir ja ganz schön brutal geholt. Kreuzigung… also ehrlich! Wie einen Verbrecher. Hättest du das nicht etwas eleganter machen können? Ein schneller Herzinfarkt, irgendsowas…

TOD
Nein, der brauchte was Großes. Die Leute haben ja fast angefangen, ihm zu glauben. „Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt“, hat er gesagt. So ein Quatsch. 

PUDEL
In Jerusalem war ja auch einiges los.

Holt eine Zeitung hervor und liest:
„Chaos in Jerusalem – Naturkatastrophen und übersinnliche Phänomene bei Kreuzigung Jesu. Tote stehen aus Gräbern auf, Tempelvorhang zerreißt, Erde bebt, unerwartete Sonnenfinsternis…“

TOD
Kinderkram! Taschenspielertricks! Jetzt wird erstmal gefeiert! 

PUDEL
Ich verstehe nicht, wie dir jetzt zum Feiern zu Mute sein kann. Guck dir an, wie traurig die Leute sind. Alle Leute, die so viel Hoffnung auf ihn gesetzt haben…

TOD
Selber schuld! Hoffnung ist was für Weicheier, für Traumtänzer. Die Welt gehört den Realisten, so wie mir!

PUDEL
Guck mal, da gehen gerade schon wieder welche zu seinem Grab…



Auftritt drei MARIAS im Mittelgang.

MARIA 2
Ich will das Grab gar nicht sehen. Es ist alles so schrecklich!

MARIA 1
Ja, das ist es. Aber wir gehen da jetzt hin. Wenigstens um sein Grab können wir uns kümmern. Die Ehre können wir ihm noch erweisen. Das hilft uns, zu begreifen.

MARIA 2
Aber ich will das gar nicht begreifen! Ich will nicht, dass das so sein soll… so… endgültig!  

MARIA 3
Aber so ist es nun einmal. Ich bin auch traurig, Maria. Aber der Tod ist endgültig, das müssen wir einfach akzeptieren. 

Freeze MARIAS.

TOD
So ist es richtig! Akzeptiert endlich, dass das nicht zu ändern ist. Ich kriege sie alle!
Lacht laut und schaurig, verschluckt sich aber und hustet.

PUDEL
Lach nicht so dreckig. Du störst die armen Leute in ihrer Trauer.

Unfreeze 3 MARIAS. Gehen auf Wandbehang mit leerem Grab zu.

MARIA 1
Gleich sind wir da. 

MARIA 2
Aber… was ist das denn?! Guckt mal, der Stein von der Höhle ist weggerollt! 

MARIA 3
Das ist ja furchtbar! Das müssen Grabräuber gewesen sein! 

MARIA 1
Nicht einmal sein Grab konnten sie in Frieden lassen! 

MARIA 3
Wir müssen nachsehen, ob wenigstens sein Körper noch da ist…

Auftritt ENGEL.

ENGEL
Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Jesus ist nicht hier. Wisst ihr nicht mehr, was er euch gesagt hat? Er wird sterben – und am dritten Tage auferstehen.

MARIA 2
Er ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!

MARIA 1
Nein, das kann nicht sein! Irgendjemand hat seinen Leichnam gestohlen und sein Grab kaputt gemacht! 

MARIA 3
Ist jetzt auch egal, wir müssen das den anderen sagen! 

MARIA 1
Ja, lasst uns abhauen, hier bleibe ich keine Minute länger! 

Ab ENGEL und MARIAS


 
PUDEL
Oha… was war das denn?!

TOD
Winkt ab.
Was soll das schon sein? Grabräuber. Unschön, aber kommt halt immer wieder vor. Und jetzt hol mir endlich was zu trinken, damit wir anstoßen können!

PUDEL
Aber der Engel…

TOD
Humbug! Das bilden sie sich ein, weil sie das alles nicht wahrhaben wollen. Weil sie MICH nicht wahrhaben wollen. Deswegen denken die Menschen sich doch die ganzen Religionen aus.

PUDEL
Nachdenklich.
Also, ich weiß ja nicht… wer weiß, ob du dich dieses Mal nicht übernommen hast… 

TOD
Ich übernehme mich nicht! Gibt es hier jetzt was zu trinken oder nicht?!

Auftritt MARIAS, PETRUS und THOMAS

PETRUS
Ich verstehe immer nur Bahnhof. Ihr seid ja ganz aufgeregt!

MARIA 1
Das Grab ist leer!

MARIA 3
Jesus ist weg!

MARIA 2
Aber da war ein Engel, der hat gesagt…

PETRUS
Nicht alle durcheinander! Immer diese hysterischen Hühner…

THOMAS
Wir gucken uns jetzt erst einmal den Tatort an.

TOD
Stimmt, Tatort, heute ist ja Sonntag!

PUDEL
Psst, leise jetzt!

MARIAS, PETRUS und THOMAS am Grab, JESUS steht mit dem Rücken zu ihnen.

PETRUS
Tatsächlich… Das Grab ist leer. 



JESUS dreht sich um. Alle erstarren.

JESUS
Seid gegrüßt. Fürchtet Euch nicht.

MARIA 2
Jesus, du lebst! Ich habe es immer gewusst!

PUDEL
Oh-oh…

TOD
Entsetzt.
Das… das kann nicht sein! Das gilt nicht! Der war doch schon zu den Akten gelegt!

THOMAS
Das glaube ich nicht!

TOD
Genau, das ist auch nicht zu glauben! Das bilden die sich doch alle ein, dafür gibt es eine ganz wissenschaftliche Erklärung – kollektive Visionen, Halluzinationen, was weiß ich – die drehen einfach durch vor Trauer!

PUDEL
Sei doch mal leise, ich will hören, wie es weitergeht.

THOMAS
Das glaube ich nicht! Da müsste ich schon die Wunden an seinen Händen fühlen, da, wo die Nägel gewesen sind.

MARIA 1
Aber Thomas…

JESUS
Lass ihn. Es ist ja auch schwer zu glauben.

Geht auf THOMAS zu und streckt ihm die Hände hin.

Hier, überzeuge dich selbst.

THOMAS nimmt seine Hände.

THOMAS
Überwältigt.
Du bist es… Mein Herr und mein Gott!

JESUS
Du glaubst, weil du gesehen hast. Aber andere Menschen werden auch glauben, obwohl sie mich nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Noch nicht.

Zu den anderen.

Aber dafür müssen sie von mir erfahren. Darum bitte ich euch: Macht euch auf in die Welt und erzählt den Leuten, dass ich lebe. Erzählt ihnen, dass der Himmel offen steht und der Tod seine Macht verloren hat. Ich bin bei euch, alle Tage, bis ans Ende der Welt.

Hält inne und guckt Richtung TOD und PUDEL.

Aber vorher habe ich noch etwas zu erledigen.

Ab MARIAS, PETRUS und THOMAS.

PUDEL
Oh-oh…

TOD
Außer sich.
Das geht nicht! Das gibt es nicht! Wie soll das überhaupt gehen…?!

PUDEL
Duckt sich.
Das fragst du ihn am besten selbst…

JESUS geht auf TOD und PUDEL zu und bleibt vor dem Schreibtisch stehen.

JESUS
Hallo, Tod. So sieht man sich wieder.

TOD
Guckt demonstrativ weg.
Ich sehe niemanden. Zu Pudel: Siehst du hier jemanden außer uns beiden?

JESUS
Sanft.
Das ist jetzt sehr schwer für dich. Aber du wirst es akzeptieren müssen. Du hast verloren.

Legt TOD ein Blatt Papier auf den Schreibtisch.

TOD
Grabscht nach dem Papier und liest mit steigender Irritation.
„Hat sich stets nach Kräften bemüht, seine Arbeit termingerecht zu erledigen…“, „… in gegenseitigem Einvernehmen getrennt…“ He, das ist ein Zeugnis – und zwar ein schlechtes! Du willst mich loswerden! Das kannst du gar nicht.

JESUS
Doch, WIR können das…
Zeigt vielsagend nach oben.

PUDEL
Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen…

TOD
Geschockt. Du bist… Nervös. Aber hey, da kann man doch drüber reden… Gut, ich war vielleicht manchmal etwas übereifrig. Aber im Großen und Ganzen… Ihr braucht mich doch, sonst platzt diese Erde aus allen Nähten. Und es war ja auch nicht alles schlecht! Überleg doch mal, die vielen Male, wo ich Menschen aus großen Qualen erlöst habe…

PUDEL
Oh-oh…

JESUS
Eben. Du hast dich als Erlöser getarnt. Kluge Strategie, das muss ich dir lassen. Aber damit ist es vorbei. Es gibt nur einen Erlöser.

TOD
Wütend. Ich habe Freunde, mächtige Freunde! Die alle für mich arbeiten. Überall werden Waffen gebaut und benutzt…

JESUS 
Ich habe mehr Schwestern und Brüder als du Freunde.

TOD
Und wenn schon – gestorben wird immer!

JESUS
Ja. Und immer werden Menschen sich gegenseitig trösten und daran erinnern, dass du nicht das letzte Wort haben wirst.

TOD
Alles Karteileichen!

JESUS 
Alles Kinder Gottes, deren Namen im Buch des Lebens geschrieben sind.

Nimmt PUDEL seine Akte aus der Hand.

Die nehme ich mal mit. Und die anderen habe ich auch schon abholen lassen.

TOD
Ich bin der Tod!

JESUS
Ich bin die Auferstehung und das Leben.

TOD
Ich kriege sie alle!

JESUS
Du hast sie doch jetzt schon nicht mehr alle.
PUDEL
Halleluja!
Ab JESUS, PUDEL und TOD.
Gemeinde singt „Er ist erstanden, Halleluja“

Zeig mir deine Narben! - Presbytereinführungspredigt über Joh 20,19-31

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Es war schon spätabends an diesem ersten Wochentag nach dem Sabbat. Die Jünger waren beieinander und hatten die Türen fest verschlossen. Denn sie hatten Angst vor den jüdischen Behörden. Da kam Jesus zu ihnen. Er trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!« Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Die Jünger waren voll Freude, weil sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal: »Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so beauftrage ich jetzt euch!« Dann hauchte er sie an und sagte: »Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr seine Schuld vergebt, dem ist sie wirklich vergeben. Wem ihr sie aber nicht vergebt, dem ist sie nicht vergeben.« Thomas, der auch Didymus genannt wird, gehörte zum Kreis der Zwölf. Er war jedoch nicht dabei gewesen, als Jesus gekommen war. Die anderen Jünger berichteten ihm: »Wir haben den Herrn gesehen!« Er erwiderte: »Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst glaube ich nicht!« Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander. Diesmal war Thomas mit dabei. Wieder waren die Türen verschlossen. Da kam Jesus noch einmal zu ihnen. Er trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!« Dann sagte er zu Thomas: »Nimm deinen Finger und untersuche meine Hände. Strecke deine Hand aus und lege sie in die Wunde an meiner Seite. Du sollst nicht länger ungläubig sein, sondern zum Glauben kommen!« Thomas antwortete ihm: »Mein Herr und mein Gott!« Da sagte Jesus zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!« 


Nach Ostern?


„Frohe Ostern!“ Spätestens seit Montagabend ist dieser Gruß aus dem Alltag wieder verschwunden, sieht man vielleicht von einigen kirchenjahreszeitlich Bewanderten ab, die noch wissen, dass die Osterzeit bis Pfingsten geht. In den Geschäften werden die Schokohasen und Ostereier verramscht, um wahrscheinlich schon im Verlauf der nächsten Wochen der Weihnachtsdekoration Platz zu machen. Morgen geht die Schule los, und auch die Kirchen rundherum im Land erholen sich von dem ungewohnten Besucheransturm und der ungewohnten Dichte der Gottesdienste an den Ostertagen. Was bleibt von Ostern eigentlich übrig, außer dem Bild eines leeren Grabes an der Wand, das eigentlich auch nur noch wegen der heutigen Predigt hier hängt?

Was bleibt nach Ostern? Da sitzen die Jünger. Sitzen irgendwo in Jerusalem, hinter Schloss und Riegel „aus Furcht vor den jüdischen Behörden“. Natürlich. In der Erzählung von Johannes, für den die Trennung von Christentum und Judentum schon Geschichte ist, sind es wieder einmal die Juden schuld. Aber das ist ja nur der Anfang, und das fasziniert und befremdet mich gleichermaßen: Fast so alt wie die Osterbotschaft ist auch die Geschichte der Christenheit, die sich zurückzieht, die unter sich bleibt, die die Welt aussperrt. Bei den Jüngern war es die Angst vor jüdischen Behörden, zu anderen Zeiten und in anderen Ländern, bis heute, mag es tatsächlich die berechtigte Angst vor Verfolgung sein, in China, Iran oder Syrien, oder vor wenigen Jahrzehnten in Rumänien und Russland. Christinnen und Christen, die aus solchen Kulturkreisen zu uns kommen, wundern sich oft, dass bei uns die Türen genauso fest verschlossen und wir ebenso versteckt sind. Vielleicht nicht baulich, auch oft entgegen dem Beteuern, besonders niederschwellig sein zu wollen. Aber auch wir ziehen uns doch hinter verschlossene Türen zurück. Vielleicht aus Angst vor Veränderung? Vielleicht aus Angst, von anderen für bekloppt gehalten zu werden, wenn wir im traditionellen Ostergruß laut und vernehmlich bekennen: Der Herr ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden, gegen all unsere Erfahrung, gegen die Logik des Todes.


Wenn ich mir an dieser Stelle etwas von unseren neuen Presbyterinnen und Presbytern wünschen darf: Keiner von Ihnen und Euch ist neu in der Gemeinde, trotzdem bereichern Sie das Presbyterium um einen neuen Blick auf unser gemeindeleitendes und kirchenverwaltendes Tagesgeschäft. Bitte, achtet und achten Sie mit und für uns verstärkt darauf, wo wir uns einschließen und wo uns unsere Ängste einsperren und eng werden lassen. So wie die Jünger am ersten Osterfest, die sich einschlossen aus Angst vor den Behörden und vielleicht auch aus Verwirrung über die Nachrichten vom leeren Grab.

Heilsame Grenzüberschreitungen


Plötzlich ist er da. So fest verschlossen die Türen auch sind, der Auferstandene lässt sich nicht davon draußen halten. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle, sagt er in der Offenbarung des Johannes. Und diese Schlüssel passen auch in die wuchtigen, eisenbeschlagenen Tore alter Kathedralen und öffnen auch die schweren, angstbeschlagenen Herzen der Christinnen und Christen. Wo Angst ist, da ist Raum für Jesus. „Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken“, hat er einmal gesagt, und dort, wo die Kirche krankt an Selbstbezogenheit und Zweifel, an Orientierungslosigkeit und Angst, an falschen Idealen und Engstirnigkeit, kommt der Arzt, mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen und patientenbezogenen Therapien. Plötzlich ist er da, mitten unter den Jüngern. Mitten unter uns. Und sagt: Friede sei mit euch.

Plötzlich ist er da. In einem Wort, das mitten ins Herz geht.
In einem Bissen Brot und einem Schluck Wein.
In einem fragilen Moment Händchenhalten um den Abendmahlstisch.
In einem Gespräch, in dem zwei oder drei ihre Herzen und Ohren öffnen.
Plötzlich ist er da. Mitten unter uns. Und sagt: Friede sei mit euch.

Keine verschlossene Tür hält ihn auf, kein noch so deutliches Signal: Wir wollen unter uns bleiben. Und damit setzt Jesus seine Reihe unerhörter, aber höchst heilsamer Grenzüberschreitungen fort, die er schon zu Lebzeiten begonnen hat: Die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwimmt. Die Grenze zwischen Völkern und Familien bröckelt. Die Grenze zwischen „uns“ und „denen“ wird eingerissen. Die Grenze zwischen Leben und Tod wird mit einem souveränen Schritt übertreten.

Und Jesus kommt seinen Jüngern nah, im handgreiflichsten Sinn: Mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Er pustet sie an, mit frischem Wind, mit dem Hauch des Lebens, mit neuem, lebendigen Geist, wie Gott selbst den Klumpen Lehm am Anfang aller Dinge Leben einhaucht und der Kuss des Ewigen Neues wachsen lässt.


Wie er wohl riecht, der Atem des Auferstandenen? Nach dem, was ich in den letzten Tagen und Wochen hier im Gemeindezentrum erlebt habe, würde ich sagen: Nach frisch gebackenem Brot und feuchter Blumenerde. Nach Kaffee. Nach Rosmarin und Koriander und Kardamom und Zimt und Ghormeh Sabzi. Nach stockiger Kleidung und dem Schweiß langer Reisen. Wie riecht er für Sie, der Atem des Auferstandenen?

Er haucht sie an. „Friede sei mit euch“, sagt er. So, wie man sich im Orient halt begrüßt: Schalom. Selam. Salâm. Das ist etwas anders als „Ruhet in Frieden“. Mit seinem Gruß öffnet Jesus die verschlossenen Türen und weist nach draußen. Bei Matthäus ist es der Missionsbefehl, aus der Mund-zu-Mund-Beatmung wird Mund-zu-Mund-Propaganda. Bei Johannes ist es die Erinnerung an die Verantwortung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit: Wem ihr seine Schuld vergebt, dem ist sie vergeben. Wem ihr sie nicht vergebt, dem wird sie nicht vergeben. Nennt das Böse böse und das gute Gut, sucht das Gespräch, erhebt Eure Stimme. Mahnend und zurechtweisend, ja, aber auch vergebend und befreiend.

Wenn ich an dieser Stelle unseren neuen Presbyterinnen und Presbytern etwas wünschen darf, dann ist es das: Vergesst bei aller Verwaltung und Organisation, bei allem kirchenpolitischen Tagesgeschäft und betriebswirtschaftlichen Abwägen nicht, dass unser Auftrag ein geistlicher ist. Schuld benennen – und vergeben. In allem, auch in unseren Strukturen und Arbeitsweisen, vom offenen Himmel erzählen und die freie Gnade Gottes ausrichten an alles Volk.

Zeig mir deine Narben 


Da ist noch Thomas. „Der Ungläubige“, hat die Geschichte ihn zu Unrecht getauft. Denn Thomas ist ja kein Ungläubiger, im Gegenteil – er wird später das steilste Christusbekenntnis aussprechen, das je einem Menschen im Evangelium in den Mund gelegt wurde: „Mein Herr und mein Gott“. 
Was Thomas auf keinen Fall ist: Ungläubig. Was er aber auch nicht ist: Leichtgläubig. Und ich kann ihn verstehen. Ich glaube, viele können das. Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst glaube ich nicht. Zeigt mir seine Narben, sagt Thomas. 

Und Jesus zeigt sie, lässt sich befühlen, kommt ihm nah. Zeigt sich ungeschützt, mit all den Spuren, die das Leben hinterlassen hat. Und es sind seine Narben, die ihn für Thomas glaubwürdig machen. Mitten in der ungeschminkten Stadt Wuppertal, am achten Tag nach Ostern, sehen wir den ungeschminkten Gott. Der sich die Welt nahe gehen lässt, der sie liebt, dass es wehtut. Der seine Narben trägt, vielleicht nicht mit Stolz, aber mit Selbstbewusstsein. 



Auch wir tragen Narben. An unseren Körpern, auf unseren Herzen, Zeugen eines gelebten Lebens. Der Schmiss an der Stirn, von einem Fahrradunfall mit fünf. Das leichte Fiepen im rechten Ohr nach einem unverdienten, harten Schlag irgendwann in der Kindheit. Der Blinddarm. Die unzähligen kleineren und größeren Schrammen, von denen wir gar nicht mehr wissen, woher sie stammen. 

 Auch wir als Gemeinde tragen Narben. Erinnerungen an schwierige Abschiede, an Saaten, die nicht aufgegangen, Projekte und Ideen, die gescheitert sind. An Menschen, um die wir gekämpft und verloren haben. Wir sind geübt darin, unsere Narben zu verstecken. Kurz vor Ostern haben wir noch schnell über die Außenfassade gestrichen, damit es ordentlich aussieht. Wenn wir im Presbyterium aus den Bezirken berichten, dann erzählen wir besonders gern und routiniert über das, was gut läuft. Weniger über das, was uns schwer fällt. Noch weniger über das, was uns nachts nicht schlafen lässt. 

Aber vielleicht brauchen die Menschen das gar nicht von uns. Vielleicht machen uns geputzte Fassaden, glatte Oberflächen und spannungsfreie Erfolgsgeschichten unglaubwürdig. Weil sie keine Auskunft darüber geben, was das Leben mit uns gemacht hat, auch das Leben mit oder auf der Suche nach Gott. 

Zeig mir deine Narben, und erzähl mir deine Geschichten. 
Als dir der Kinderglaube abhanden gekommen ist wie die Milchzähne. 
Zeig mir deine aufgeschürften Knie, als du gestolpert und hingefallen bist. 
Zeig mir die Schwielen an den Händen, als du dich wieder hochgezogen hast. 
Lass mich den Finger in die Wunde legen, ohne mich zu beschwichtigen oder abzulenken. Sonst glaube ich nicht. 

Wenn ich an dieser Stelle eine Bitte an unsere neuen Presbyterinnen und Presbyter richten darf, dann ist es das: Lernt von Jesus und Thomas. Nehmt Euch Zeit, Eure Wunden heilen zu lassen. Aber versteckt Eure Narben nicht. Versucht nicht, perfekt zu sein – aber ehrlich. Legt, wo es nötig ist, den Finger in die Wunde. Und tragt Euren Teil dazu bei, dass diese Gemeinde ein Raum ist, an dem sich niemand schämt für seine Narben und seine Geschichten, seine Fragen und seine Zweifel. 

Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Auch noch am achten Tag nach Ostern. Auch in der ungeschminkten Stadt. Plötzlich ist er da. Friede sei mit Euch.

Damit Erntedank einen Sitz im Leben bekommt...


Pfadverlierer - querfeldein. Gottesdienst zum 50. Schwenke-Lager des Kreuzpfadfinderbunds Wuppertal

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Zur Vorgeschichte: Ich kenne, oder kannte bisher, kaum Pfadfinder, mein Wissen beschränkte sich bislang auf das, was ich vom Fähnlein Fieselschweif gelesen hatte. "Hättest Du Lust, den Gottesdienst bei uns auf dem Lager zu machen?" fragten die netten Pfadis, die bei uns im Gemeindehaus herumturnen. "Klar", sagte ich, und dachte: Machste halt was Nettes, bisschen Pfingsten, bisschen Pfadfinder, und irgendwie geht es doch bei beidem darum, eine Idee um die Welt zu tragen. Dann Freitagabend. Ich bei Pfadfinderlager. Ich muss bei solchen Gottesdiensten dagewesen sein vorher, muss ein bisschen Stallgeruch geschnuppert haben. Wir besprechen den Gottesdienst. "Was erwartet Ihr denn, oder besser: Wie sollte ein Gottesdienst sein, damit ihr hinterher sagt: Der war gut!", frage ich, ganz pädagogisch. Und bekomme ebenso pädagogisch zur Antwort: "Am besten: Anders... Also, bisher haben irgendwie alle immer was zu Pfingsten gemacht, dann was zu Pfadfindern, und dass es irgendwie bei beiden darum geht, eine Idee um die Welt zu tragen." Hmpf. Also zurück auf Los. Immerhin: Pfarrer und Pfadfinder pfangen beide mit pfa an. Das ist ja schon was. 

 

Mir sagen die Leute, und Euch vielleicht auch:
Geh deinen Weg, geradeaus, unbeirrt,
kletter höher, schneller weiter
auf der Karriereleiter,
damit was aus dir wird!

Halt dich nicht auf Nebengleisen auf,
mal dir, mach dir deinen Lebenslauf
wiediewiediewie’s den Chefs,
den Lehrern und Eltern, den Medien der Welt gefällt.
Deine Karriere sei wie dein Gesicht,
mit eben aufgetragener Makeupschicht
keine Ecken und Kanten,
keine interessanten Varianten,
keine Abweichungen und Durchstreichungen,
keine Wiederholung und Erholung,
für dich gibt’s nur die Überholung,
die Letzten werden die Letzten bleiben
und den Ersten auf ewig hinterhertreiben.
Deine Lebensgeschichte
soll kein Märchen, kein Gedicht,
sondern ein Heldenepos sein,
ohne Punkt und Komma,
nur mit Ausrufezeichen.
Sei Krieger, sei Sieger,
und Überflieger.
Lern Chinesisch schon im privaten Kindergarten,
in den nur die Harten kommen.
Such dir die richtigen Freunde aus,
möglichst die aus gutem Haus,
guck nicht zu viel nach rechts und links,
dein Weg ist klar, immer stur geradeaus.
Die Schule geht bis kurz nach vier,
der Unterricht geht weiter, erst am Klavier,
dann auf dem Platz,
nicht für die Schule lernen wir,
sondern für den Lebenslauf.
Halt die Deadline ein, so ist’s fein,
hol die Ellenbogen raus, burn dich aus.
Klick dich, fax dich, mail dich hoch
grapsch dich, quetsch dich, schleim dich hoch
kick dich, box dich, schlaf dich hoch
bück dich hoch, ja!
Geh deinen Weg, geradeaus, unbeirrt,
kletter höher, schneller weiter
auf der Karriereleiter,
damit was aus dir wird!
 
Aber was wird aus mir?
Mein Weg geht nicht immer geradeaus.
Ich scher manchmal zur Seite aus,
bleibe an Blumen und Schaufenstern stehn
oder weiß einfach nicht, wie es weitergeht.
Ich stolper über Stock und Stein,
querfeldein,
fall manchmal rein und manchmal hin,
und weiß oft gar nicht, wo ich bin,
nur da, wo ich nicht sein soll.
Mein Weg geht nicht immer geradeaus,
eher querfeldein.
Man müsste Pfadfinder sein,
allzeit bereit, ich weiß nur nicht, wozu,
und fühl mich manchmal mehr
als wär ich Pfadverlierer.
Dann hock ich im Wald,
um mich rum nass und kalt,
und ich hoffe, dass da bald
jemand kommt und Halt sagt
und ein Feuer macht aus dem, was hier liegt,
der aus Pflöcken und Planen ein Zelt zusammenkriegt
 
es muss im Leben doch jemanden geben,
der einen Pfad für mich findet,
meine Wunden verbindet
und mir sagt: Es wird alles gut.

Aber manchmal denk ich dran,
manchmal glaub ich dran,
manchmal hoffe ich drauf
und manchmal spüre ich auch,
dass da jemand ist, der mit mir geht,
der’s Leben kennt, der mich versteht.
Einer, der mich begleitet, querfeldein,
über Stock und Stein
und mir hilft, mein eigener Pfadfinder zu sein,
ich bin nicht allein, mein
Stamm, mein Verband
nennt sich „Kirche“ oder auch einfach Volk Gottes.

Ich hab auch ein Versprechen gegeben,
dass in meinem Leben
der Nächste etwas zählen soll,
egal aus welchem Volk,
egal aus welcher Stadt,
von welchem Verein und aus welchem Land -
zu meinem Stamm, meinem Verband
gehören alle, denen Gott den Kopf gewaschen hat,
und wenn unsere Dämme brechen und uns fast nichts mehr hält,
dann gilt sein Versprechen
Ich bin bei euch, bis ans Ende der Welt.

Und so lauf ich weiter querfeldein,
durch Dickicht und Wälder,
über Stock und Stein,
nicht nur geradeaus,
hab meinen Glauben dabei,
der nicht immer eins zu eins
sagt, was ich jetzt tun soll,
der nicht immer wie ein festes Haus,
aber immerhin wie eine Kröte oder Lokomotive ist
eine Plane, von einem Pfahl gestützt,
der mich vor dem schlimmsten Regen beschützt
bis es irgendwann weitergeht.
Mein Leben ist ein Abenteuer,
mein Glaube wie ein Lagerfeuer,
um das wir uns versammeln,
wenn über uns die Sterne glühn,
von dem uns eine Flamme
ganz tief berührt
und wir sie mit uns führn,
und was wir tun, ist nicht vergebens.

Jesus sagt: Ich bin, wenn ihr wollt,
das Stockbrot des Lebens,
ich mach euch satt
und geb euch Kraft
für den Weg, der vor Euch liegt.


 
Der führt nicht immer geradeaus,
der führt auch manchmal querfeldein.
Aber ich werde bei euch sein
und ihr sollt meine Pfadfinder sein.
Allzeit bereit, und ich frage: Wozu?
Und er sagt: Das wirst du schon sehn,
wenn wir, ich und Du, zusammen durchs Leben gehn.

Ich bin Pfarrer, und das fängt ja schon einmal
so an wie Pfadfinder,
und vor allem sind wir, allesamt, überall
Gottes Kinder.
Und er wird sein Versprechen nicht brechen,
und wir unseres auch nicht.
Tragt in die Welt euer Licht.
Sagt allen: Fürchtet euch nicht. 
Amen.

Trinitatis-Fragment

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„Ist gut jetzt!“ rief Gott und schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch, dass es nur so dröhnte und sein Teeglas einen klirrenden Sprung machte und heißer, süßer Pfefferminztee auf die gläserne Tischplatte schwappte. Unten in der Welt hörte man entferntes Donnergrollen. 
Auf dem Schreibtisch stand ein riesiger Flachbildschirm, über die in nicht enden wollenden Reihen die Meldungen rasten, wie der Börsenticker bei den Nachrichten. Nur, dass es keine Börsenmeldungen waren. Nichts und niemand blieb unbemerkt. Auf einem blauen Band flackerten die Geburten vorbei. Auf einem schwarzen die Todesfälle. Und auf einem roten Band die unnötigen, die vorzeitigen Todesfälle: Verhungernde Kinder, Mordopfer, Verkehrstote. Und das rote Band lief heute für Gottes Geschmack wieder einmal viel zu schnell. 

„Es ist gut jetzt“, schnaubte der Allmächtige noch einmal und blickte dann auf ein Bild, das in seinem Büro an der Wand hing. Ein furchtbar kitschiges Bild, das eine bergige, sattgrün bewaldete Landschaft zeigte, durch die sich ein knallblauer Wasserlauf zog. Das Wasser schien sich zu bewegen, was an den blinkenden Lämpchen hinter der Leinwand lag. Im pastellfarbenen Himmel zogen Schwalben ihre Kreise, vorne im Bild galoppierten wilde Pferde mit fliegender Mähne. Furchtbar kitschig, ja, aber Gott hatte einen Hang zum Kitsch. Deswegen hatte er sich beim Schaffen der Welt mit Sonnenauf- und Sonnenuntergängen, malerischen Blumenwiesen und imposanten Gebirgspanoramen besonders viel Mühe gegeben, ja, er war im Kern mehr Künstler als Handwerker. Der Blick auf das Bild beruhigte ihn immer. Und ließ ihn leicht sentimental werden, wenn er daran dachte, wie alles angefangen hatte. 

Am Anfang das Chaos. Wie bei Moses unterm Sofa. Das ganze Universum hatte rum- und durcheinandergelegen, aber: Es war ein kreatives Chaos gewesen, das Gott nach und nach in Sinn verwandelt hatte. Er sah es alles noch vor sich, als wäre es gestern gewesen: Grüne, gichtbekronte Meere, klarblaue Flüsse und Seen, leuchtende Wiesen, wogende Wälder, zwitschernde Vögel. Schön war es gewesen. Und dann war er auf die Idee gekommen, den Menschen da rein zu setzen… 

Ein kurzer Gong riss Gott aus seiner Nostalgie. Zeit für das informelle Vorstandsgespräch. Daran hielt man eisern fest, eine Stunde für Teambuilding und kurzwegige Kommunikation. Gott machte sich auf zur himmelseigenen Chill-Out-Lounge, die mit Tüchern an Decken und Wänden und bunten Kissen nicht nur zufällig an ein Beduinenzelt erinnerte – die Besinnung auf die nomadischen Ursprünge war für die Corporate Identity seit ehedem wichtig. 



Jesus war schon da, fläzte sich auf den Kissen und zog blubbernd an einer Wasserpfeife. 
„Fehlt nur noch der Heilige Geist“, sagte Gott. 
„Ich bin schon da“, hauchte eine Stimme, die von überall und nirgends zu kommen schien. 
„Also dann“, sagte Gott und ließ sich ächzend auf ein Kissen sinken. 
„Ich fang an. Diese Menschen!“ stöhnte er. 
„Ey, vorsicht“, sagte Jesus. 
„Ich höre da bei dir raus, dass die Dir Kummer machen“, raunte der Heilige Geist. 
„Ja, genau“, sagte Gott, „manchmal wünsche ich mir, ich hätte sie nie erschaffen.“ 
„Du würdest Dir wünschen, Du hättest sie nie erschaffen“, spiegelte der Heilige Geist wieder. „Hm…“, sagte Jesus. „Machen wir doch mal ein kleines Gedankenexperiment: Stell Dir vor, Du könntest zaubern oder so ähnlich…“ 
„Ich kann zaubern, oder so ähnlich“, unterbrach ihn Gott ungehalten. 
„Und stell Dir vor“, sprach Jesus unbeirrt weiter, „Du könntest sie mit einem Fingerschnipsen verschwinden lassen…“ 
„Das könnte ich tatsächlich“, grummelte Gott, „ist gar nicht viel Aufwand: Ein kleiner Meteoriteneinschlag, ein paar Wochen Dauerregen…“ 
„Aber das wolltest du ja nicht mehr machen“, hauchte der Heilige Geist. 
Gott brummte. 
 „Jetzt lasst uns doch mal weiterdenken“, beharrte Jesus. „Stell dir vor, du würdest es machen. Wie würde die Welt dann aussehen?“ 



Und Gott schwärmte von knallblauem Wasser, von einem pastellfarbenen Himmel, über den Schwalben ihre Kreise zogen und von galoppierenden Wildpferden mit fliegender Mähne. Jesus und der Heilige Geist kannten das Bild aus seinem Büro und sagten nichts. 
„Und ungestört würden die Blumen blühen und die Bäume ausschlagen, und Frühling würde auf den Winter folgen und Regen auf Sonnenschein, und die Bienen würden surren… und…“ Er stockte. „Und?“, fragten Jesus und der Heilige Geist gleichzeitig. 
„Es wäre wie damals“, sagte Gott langsam. „Idyllisch. Wunderschön. Und… furchtbar langweilig.“ 

Und Gott erinnerte sich daran, dass er genau deswegen gegen alle Vernunft und gegen alle Voraussicht die Menschen geschaffen hatte, nicht weil er sie gebraucht hätte – sondern weil er sie wollte. 
Und Gott zog gedankenverloren an seiner Shisha. Dichter, weißer Rauch umwallte ihn, blieb wie ein weißer Rauschebart an seinem Kinn hängen und sank dann unendlich träge hinunter, immer weiter. Und die Menschen sahen dichte weiße Wolken am klarblauen Himmel. Nur wenn man ganz genau hinsah, konnte man sehen, dass sie sich bewegten. Am Besten geht das, wenn man sich auf einer Wiese auf den Rücken legt. Und Gott dachte, in Abwandlung einer verdammt guten Predigt, die sein Sohn einmal auf einem Berg gehalten hatte: Selig sind, die stehen bleiben und in den Himmel gucken. Denn sie ahnen, dass es gut war und wieder gut sein kann. 

„Bist du fertig“, fragte Jesus nach einer Weile. 
„Ja“, nickte Gott, doch dann dachte er wieder an das rote Band auf seinem Bildschirm, das immer schneller raste. „Obwohl… es ist doch wirklich gut jetzt, so kann das doch nicht bleiben“, sagte er noch einmal. 
„Ich kümmer‘ mich drum“, raunte der Heilige Geist und rauschte abwärts, kitzelte hier und dort ein paar Nasen, berührte ein paar Herzen und weckte hier und dort ein bisschen Lust an der Unendlichkeit. Bei einigen von denen, die träumerisch in den Himmel guckten, und auch bei ein paar anderen. 

Und Gott nickte, und sah, dass es ganz gut war.

Gängige Sprachkritik und spannende Biografie: Erik Flügge, Der Jargon der Betroffenheit

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„Auf Dresdens Straßen liegt das Christuskind. Totgetreten von 15.000 Demonstranten im eisig kalten Schnee. Es ist vergessen wie ein Haufen Dreck. Keiner blickt zu ihm herunter, das Volk marschiert über die zertrümmerten Knochen hinweg. [...] Das ganze Land spricht von den selbsternannten Verteidigern des Christentums im Abendlande. Doch wer wie sie den Fremden das Obdach verweigert, der ist kein Christ.“ 

Diese großen, ärgerlichen und wahren Sätze standen, soweit ich weiß, 2014 in keiner Weihnachtspredigt, aber auf dem Blog von Erik Flügge. Vielleicht wegen dieser Sätze (und wegen der großartigen Currywurst-Wahlkampagne von Squirrel&Nuts) bin ich geneigter, ihm zuzuhören, als ich das sonst bin, wenn wieder jemand sagt, dass wir Theologen schlecht sprechen. Weiß ich ja selbst, und sage ich ja auch immer wieder. Und liest man ja auch immer wieder (hier und hier und hier und so). Den Startschuss machte vor einem Jahr ein Blogpost mit dem Titel „Die Kirche verreckt an ihrer Sprache.“ Der Text darunter ventilierte zum größten Teil Altbekanntes, aber mich hat damals der Titel angefixt. Weil selten so deutlich gesagt wird, dass das Überleben der „Kirche des Wortes“ an der Sprache hängt. Mehr, außer ein paar Riten und Handauflegungen, die allesamt aber wieder an Sprachhandeln rückgekoppelt werden, haben wir ja nicht. 

Umso mehr wundert es mich, dass im Theologiestudium so wenig Wert auf Sprache gelegt wird. Klar gibt es immer mal wieder Kurse zum wissenschaftlichen Schreiben oder Sprecherziehung. Aber sonst? Reiner Preul hat das einmal in aller Deutlichkeit gesagt: 

„Es ist gelegentlich vorgekommen, dass Studierende mich gefragt haben, ob ich sie für den Pfarrberuf für geeignet halte. Ich habe dann unter anderem auch nach ihrer Deutschnote gefragt. War diese nicht besser als ausreichend, dann habe ich zwar nicht direkt abgeraten – Schulnoten sind bekanntlich nicht immer gerecht -, aber doch Bedenken geäußert. Wenn wem das Wort nicht hinreichend zu Gebote steht, wer Schwierigkeiten mit dem flüssigen und präzisen Ausdruck in seiner eigenen Sprache hat, der wird sich als Pastor oder Pastorin arg quälen müssen.“ 
 (Reiner Preul, Pfarrerinnen und Pfarrer als eloquente und gebildete Zeitgenossen, in:
Regina Sommer/Julia Koll (Hg.), Schwellenkunde. Einsichten und Aussichten für den Pfarrberuf im 21. Jahrhundert,
FS Ulrike Wagner-Rau, Stuttgart 2012, 104-116, Zit. 104). 

Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht nicht um schillernd perfekte Kunstsprache (oder Sprachkunst), die so glatt ist, dass man daran abrutscht, oder so gewaltig, dass sie jedem Zuhörenden die Sprache verschlägt. Dass in Bibel und Kirchengeschichte immer wieder Menschen mit Sprachfehlern zu Wortführern (Moses, Paulus, Melanchthon) und Legastheniker zu Bestsellerautoren (Gollwitzer) werden, sollte zu denken geben, ebenso wie die Einwände der dialektischen Theologen, die vor fremdem Feuer auf Gottes Altar warnten. Aber darum geht es auch nicht, wenn ich Erik Flügge richtig verstehe. Er stößt sich nicht an Sprechfehlern, sondern an den Manierismen von Leuten, die aufgrund ihres Bildungsgrades eigentlich in der Lage wären, es besser zu können, die aber durch ihre Art des Sprechens und des Argumentierens Distanz herstellen, wo Nähe angebracht wäre, und Banalisieren, wo es ans Eingemachte geht. 

Und so beginnt das Buch, nach dem erneuten Abdruck seines oben erwähnten Blogeintrags, mit dem hoffnungsvollen Bekenntnis: „Ich glaube noch daran, dass eine Predigt wirken kann“ (10). Dass als Anlass dieser Hoffnung dann Beispiele aus politischen Reden und historisch fragwürdige Lutherbilder zitiert werden, mag dem Anliegen geschuldet sein, aus einem pointierten Kurztext möglichst schnell ein vielgelesenes Buch zu machen. Aber es zeigt auch die Aporie: „Diese Texte sind zwar selten, aber sie entstehen immer wieder neu. Nur leider hört man sie seit Jahrzehnten nicht mehr aus Deutschlands kirchlichen Kreisen.“ Um es vorneweg zu sagen: Eine direkt praxisfähige Antwort im Sinne einer griffigen How-To-Anweisung, von ein paar Thesen in der Mitte des Buchs abgesehen, gibt es nicht („Es hilft nur die Flucht nach vorne: Ein eigener Gedanke muss her.“), aber auch sonst bleibt das Buch lesenswert, weil überall kleine Zwischenbemerkungen eines mit einem Bein außerhalb der Kirche Stehenden eingestreut sind, bei denen man sich ertappt fühlt und fragen lassen muss: Muss das eigentlich so sein? 

Da geht es um den ständigen Verständigungs- und Überzeugungszwang: „Kirche hält es nicht aus, das die Menschen am Ende einer Veranstaltung unüberzeugt, zweifelnd, nicht glaubend bleiben. Man versucht mit immer mehr Nachdruck das Verständnis des Gegenübers zu erzwingen. Der muss doch glauben! – Und so scheitert die Verkündigung.“ (14f.). Nebenbei: Sätze wie dieser entspannen mich beim Lesen, weil sie zeigen, dass auch ein Kommunikationsprofi nicht immer nur Gold im Mund führt. Das macht das Ganze ehrlich: „Auch mein Text ist Teil der Bürgerlichkeit“ (22). Oder auch: „Hier sitze ich nun und weiß selbst die Antwort nicht“ (29) – Letzteres bezogen auf die alte Frage nach der Adressatenbezogenheit am Beispiel eines Kindergottesdienstes. 

Bei vielem von dem, was Flügge beschreibt, finde ich mich wieder: Im Klagen über die olle Rose von Jericho (33ff.). Oder über das Existieren am Rand der Kirche: „Ich bin kirchenfern – so fern man nur sein kann, denn Kirche hat Menschen, die so leben wie ich, schon lange aufgegeben. […] Nur eine Sache kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten: Warum ich mich mit Gott und seiner Kirche beschäftige, obwohl sie Menschen wie mich schon längst aufgegeben hat.“ (18). Oder in der simplen Feststellung: „Wenn man mit euch ein Bier trinkt, dann klingt ihr ganz normal. Sobald ihr für eure Kirche sprecht, klingt’s plötzlich scheiße.“ (8) 

Vieles von dem, was Flügge beschreibt, ist in den letzten Jahrzehnten auch in der Homiletik ausführlich diskutiert worden, Martin Nicol und Alexander Deeg haben im Besonderen auch Perspektiven zur Abhilfe vorgestellt. Spannend ist, dass Flügge auch hier den Finger in die Wunde legt und mit der Klarsichtigkeit eines frühen Josuttis feststellt: „[O]hne Performativität ist alles theologische Tun recht langweilig. Die emotionale Methodik bietet hier einen Ausweg. Hält man einen Impuls, an dessen Ende zwanzig Menschen weinend vor einem sitzen, dann spürt man endlich wieder auch als Theologe oder Theologin Macht. [...] Ich stelle die Frage: Geht es wirklich um das Erleben des anderen, oder um das Sich-selbst-als-mächtig-Erleben?“ (36). 

Flügge unterstellt hier eine kirchenpolitische Dimension: „Je stärker ich mich Symbolen bediene, desto weniger bin ich gezwungen, mich selbst zu positionieren. Wenn ich etwas bebildere, so überlasse ich den Adressierten die Entscheidung über die genaue Interpretation und mache mich im besten Sinne innerkirchlich unangreifbar. […] Welcher Bischof würde wohl wegen ein paar Kraftsteinen zum klärenden Gespräch einladen? – Wegen ein paar markigen [sic] Worten kann das durchaus passieren.“ (39). 
Hier ist die Perspektive sehr deutlich eine katholische, in evangelischen Gefilden hat man seit langer Zeit keine Lehrbeanstandungsverfahren mehr zu befürchten. Aber auch bei uns gibt es Konfliktvermeidungsstrategien, die dazu führen, dass Predigerinnen und Prediger selten so offen und deutlich so richtige und angreifbare Dinge sagen wie Margot Käßmann („Nichts ist gut in Afghanistan!)“ oder Christiane Quincke („Pforzheim war keine unschuldige Stadt.“). Und so sind die systemimmanenten Faktoren, die Flügge als so lähmend für inner- und außerkirchliche Kommunikation wahrnimmt („Um den heißen Brei“, 43-46), auch aus evangelischer Sicht lesenswert, wenn auch ernüchternd. 

Und so geht eigentlich im Ganzen weiter. Das Buch liest sich flüssig runter, natürlich auch deswegen, weil das meiste nicht neu ist. Nur eben hübsch pointiert gesagt. Man nickt manches Mal heftig und freut sich, weil da jemand das in Worte fasst, was einen selbst so kolossal stört. Man schüttelt schadenfroh lächelnd den Kopf, weil dem Autor manche Formulierungen auch nur so halb gelingen. Man kratzt sich am Kopf und fragt sich, warum wir so harmlos sind. Man wird mitgenommen zu Begegnungen mit Menschen in der Kirche, und gerät dort ins Stocken, wo Flügge selbst an analytische und rhetorische Grenzen stößt und ratlos fragt: „Und was nun?“ 

Das macht das Buch für mich lesens- und kaufenswert: Das mehr als nur zwischen den Zeichen durchschimmernde Selbstporträt des Autors als junger Mann, der an einem kaum zu definierenden Ort seiner Kirche unterwegs ist und damit, jetzt kommt die Kirchenhistoriker wieder durch, eine überaus seltene Quelle der Selbstdarstellung eines mobilen Performers im Dunstkreis der Amtskirche. Man kann den Jargon der Betroffenheit als einen weiteren Beitrag zur kirchlichen Sprachwelt lesen. Dann lohnen sich die 16 EUR für 160 Seiten nicht so wirklich, das meiste kann man sich auch aus seinem Blog und diversen Interviews selbst zusammenklauben. Man kann es aber auch als kirchlich-religiöse Biografie lesen, und dann lohnt es sich ganz außerordentlich. Finde ich. Und lese meine Predigt für morgen zum x-ten Mal kritisch Korrektur.

Wenn Brüder zu Mördern werden (Kain und Abel: Gen 4,1-16; Predigtreihe Männergeschichten)

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Und der Mensch erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Kain, und sie sprach: Ich habe einen [Mann] geboren mit Hilfe des HERRN. Und sie gebar wieder, Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt, und Kain wurde Ackerbauer. Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem HERRN von den Früchten des Ackers ein Opfer dar. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der HERR sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Blick senkte sich. Der HERR aber sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür, und nach dir steht ihre Begierde. Darauf redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders? Er aber sprach: Was hast du getan! Horch, das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. Und nun – verflucht bist du, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Rastlos und Heimatlos sollst du auf Erden sein. Da sprach Kain zum HERRN: Meine Strafe ist zu gross, als dass ich sie tragen könnte. Sieh, du hast mich heute vom Ackerboden vertrieben, und vor dir muss ich mich verbergen. Rastlos und heimatlos muss ich sein auf Erden, und jeder, der mich trifft, kann mich erschlagen. Der HERR aber sprach zu ihm: Fürwahr, wer immer Kain erschlägt, soll siebenfach der Rache verfallen. Und der HERR versah Kain mit einem Zeichen, damit ihn nicht erschlage, wer auf ihn träfe. So ging Kain weg vom HERRN, und er liess sich nieder im Lande Nod, östlich [jenseits] von Eden.  

Die Geschichte endet, wo sie begonnen hat, wo all unsere Geschichten beginnen und enden. Familien- und Lebensgeschichten, Liebes- und Erfolgsgeschichten, Krankheits- und Leidensgeschichten, Heimat- und Horrorgeschichten, Männer- und Märchengeschichten, sie alle spielen Jenseits von Eden. Wo die Äcker steinig, das Gelände uneben und die Wege krumm sind. Unkraut unter Weizen, Sand im Brot und Staub in den Kleidern. Jenseits von Eden bekommt eine Frau zwei Söhne. Und legt ihnen die Ungleichheit mit in die Wiege. Ist die Geburt des Ersten noch von Jubelrufen begleitet, kommt der zweite scheinbar ganz sang- und klanglos auf die Welt. Jenseits von Eden werden nicht alle Kinder gleich behandelt, so sehr wir uns das auch vornehmen. Und [Eva] gebar Kain, und sie sprach: Ich habe einen [Mann] geboren mit Hilfe des HERRN. Und sie gebar wieder, Abel, seinen Bruder. Der Name des Jüngeren ist buchstäblich Schall und Rauch, הבל bedeutet auf Hebräisch „Hauch“ oder „Nichtigkeit“, sein Name verschwindet mit seinem Träger nach dieser Geschichte aus dem Familienstammbaum und weitestgehend auch aus der Bibel. Im Namen des Älteren klingt das metallische Echo von Hammerschlägen nach, er ist zwar kein direkter Schmied, aber noch ein Schmidt oder Schmitz, ein Jedermann, der vielleicht, wie jeder Mann irgendwann im Laufe seines Lebens, zu hören bekommt: Gelobt sei, was hart macht. Wir erfahren nichts über die Kindheit dieser beiden Jenseits von Eden, wir hören direkt, was in dieser Welt auf steinernen Äckern und staubigen Straßen als das Entscheidende gilt: Abel wurde Schafhirt, und Kain wurde Ackerbauer. 

Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem HERRN von den Früchten des Ackers ein Opfer dar. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der HERR sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht.  

Generationen von Auslegern haben versucht, zu erklären, warum das so ist. Warum Abels Mühen von Erfolg gekrönt sind, Kains aber nicht. Niemand hat es bislang geschafft. Es bleibt unerklärlich, das große „Warum“ verhallt ohne Antwort. Jenseits von Eden passiert zum ersten Mal, was auch heute noch so passiert: 

Da opfert sich einer sein Leben lang für den Betrieb auf, schiebt Überstunde um Überstunde, ist geschätzter Kollege, bekommt zum Jubiläum eine goldene Uhr und Lobesreden der alten Geschäftsleitung, die ihn als die Säule des Betriebs adelt. Und dann wechselt die Geschäftsleitung, der Betrieb wird umgebaut, verjüngt, erneuert – und für die Alten ist kein Platz mehr. Auf den Mitarbeiter mit der goldenen Uhr und seine Opfer sehen die Neuen nicht. 

Da studiert einer mit Lust und Fleiß, opfert seine Freizeit, um noch ein paar Stunden in der Bibliothek zu verbringen, arbeitet nach Feierabend, um sich das Studium zu finanzieren – und dann fehlt in der Abschlussprüfung dieser eine Punkt, und alles war umsonst. Auf die Opfer der letzten Jahre sieht die Prüfungsordnung nicht. 

Da beginnen zwei ein Praktikum, unbezahlt natürlich, bringen sich ein, kochen Kaffee, bauen Möbel auf, arbeiten bis tief in die Nach an eigenen Projekten, und der eine wird übernommen, der andere nicht. Die Opfer des einen werden gesehen, die des anderen nicht, aus Gründen, die die da oben für sich behalten. 



Und Kain reagiert, verständlicher Weise, mit Wut. Ärgert sich, aber nicht über den, der sein Opfer nicht ansieht, sondern über den, der es geschafft hat, über den, der in der Nähe steht und jünger, kleiner, angreifbarer erscheint. Auch das passiert heute noch. Da wirft jemand in der Nacht zum 29. Januar in Villingen-Schwellingen eine scharfe Handgranate in eine Erstaufnahmestelle mit 170 Menschen. Da schießt jemand in Bocholt am 7. Februar aus einem fahrenden Auto auf Flüchtlinge. Da legt jemand am 6. April in Neutraubling in der Flüchtlingsunterkunft Feuer. In all diesen Fällen, bislang jedenfalls: Kein Täter. Oder auch: Täter: Kain. Ein junger Mann, der in seinem Frust über echte oder gefühlte Ungerechtigkeit Gefahr läuft, zum Brudermörder zu werden. 

Es hätte einen Ausweg gegeben. Es gibt immer einen Ausweg. Es gab ein Gesprächsangebot von ganz oben. Von dem, der ja eigentlich Schuld ist an dem, was da seinen Lauf nimmt. Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Langsam, vorsichtig, will er Kains Gesicht vom Boden heben, seinen Blick, der sich so bedrohlich verengt hat, wieder weiten. Aber Kain ist offensichtlich keiner, der so einfach über Gefühle redet, und damit dann doch wieder Jedermann – wenn man den Beziehungsratgebern und manchen Erfahrungen Glauben schenkt, sollen Männer ihre Gefühle ja eher in Taten umsetzen anstatt sie in Worte zu fassen. Für Abel endet das tödlich. Immerhin: Am Anfang reden sie ja noch, die beiden Brüder auf dem Acker, der keine gute Frucht gebracht hat. Wir wissen nicht worüber. Wir wissen nicht, ob ein Wort das andere gab und irgendwann die Worte ausgingen und die Fäuste weitermachten, oder ob Kain von Anfang an den Vorsatz hatte, seinen Bruder umzubringen. Wir kennen nur die Eskalation: Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders? 

Ich weiß nicht, wo meine alte Nachbarin aus dem dritten Stock ist, die ich seit mehreren Tagen nicht gesehen habe. Bin ich denn ihr Sohn oder Enkel, dass ich mich um sie kümmern muss? 

Ich weiß nicht, wie es weitergeht mit der Jugendlichen, die im Bus von ihren Schulkameraden runtergemacht wird. Bin ich denn Lehrer oder Sozialpädagoge, dass ausgerechnet ich da eingreifen soll, wo doch alle anderen auch nur stumm dasitzen und betreten den Blick senken? 

Ja. Ja, und abermals ja, verdammt. Du bist der Hüter deines Bruders. Ich bin der Enkel der alten Frau, wenn sie sonst keinen hat. Wir sind erziehungsberechtigt und aufsichtsverpflichtet, wenn vor unseren Augen das Böse Überhand nimmt. 

So klar und einfach es ist, als Zuschauer die richtige Antwort zu formulieren, so rätselhaft und ungreifbar bleibt Gott in dieser Geschichte. Wenn er doch schon vorher da ist, und wenn er direkt hinterher zeigt, dass er das gesehen hat, was kein anderer sehen sollte – wo war er dann dazwischen, als es passiert ist? Warum ist Gott Kain nicht in den Arm gefallen, warum fällt Gott keinem in den Arm, der heute noch Brüder und Schwestern ermordet und die Erde vergiftet? 

Vielleicht stirbt auf dem einsamen Acker Jenseits von Eden nicht nur Abel. Sondern auch das Bild von Gott als einem, der da eingreift, wo wir das für nötig halten. Gott lässt sich nicht von uns zum Weltpolizisten machen, auch dort nicht, wo die Täterschaft geklärt ist. 

Verflucht bist du, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Rastlos und Heimatlos sollst du auf Erden sein. 

Gott sagt nicht: „Ich verfluche dich“, auch wenn wieder Generationen von Auslegern das so gelesen haben, auch, wenn es doch nahe liegt, das so zu lesen. Aber das ist Kains Blick auf die Geschichte, er spricht erst von einer Strafe. Wer vom Zuschauerrang aus hier eine Strafe Gottes erkennt oder lautstark einfordert, zeigt doch nur, wie viel Kain in ihm steckt, wie schnell auch wir die Hand oder das Wort zum Brudermord erheben. Bin ich denn meines Bruders Kains Hüter? 

Was Gott beschreibt, ist die Fluch der bösen Tat. Der Ackerboden, dessen Nähe Kain nicht mehr ertragen kann, der ständige Blick nach hinten über die Schulter, ob die Schuld ihn nicht doch einholt. Aber Gott schützt den Täter. Nicht vor den Folgen seines Tuns. Aber er schützt ihn davor, Freiwild für alle zu sein, die meinen, das Recht in die eigenen Hände nehmen zu können. Und so schützt er andere davor, ihrerseits zum Brüdermörder zu werden und den Teufelskreis der Gewalt immer weiter zu ziehen. Aug um Auge, Zahn um Zahn – und nicht mehr. Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dem halte auch die Rechte hin. 

So ging Kain weg vom HERRN, und er liess sich nieder im Lande Nod, östlich [jenseits] von Eden. 

Die Geschichte endet vermeintlich dort, wo sie angefangen hat: Jenseits von Eden. Aber für Kain ist es ein Neuanfang, diese Möglichkeit bekommt er. Sich noch einmal neu zu erfinden, jemand anderes zu sein. Die Geschichte geht weiter: Und Kain erkannte seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Henoch. Er wird einen Sohn bekommen, und eine Stadt bauen. Und dort nehmen weitere Konfliktgeschichten zwischen Brüdern ihren Lauf: Abraham und Lot, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder. Geschichten, die meist nur deshalb nicht bis ins Letzte eskalieren, weil die Brüder sich trennen und in räumlicher Entfernung voneinander wieder lernen, den Blick zu heben und einander neu ins Gesicht zu sehen. Auch das geht Jenseits von Eden. Wo Männer, und nicht nur sie, Gefahr laufen, sich zu sehr über ihren Beruf zu identifizieren, ihren Frust am Falschen auszulassen, zum Opfer ihrer Gefühle zu werden, ihre Verantwortung nicht zu sehen und auf die eine oder andere Art zum Brudermörder zu werden. Jenseits von Eden ist ein gefährlicher Ort. Aber auch hier gibt es geschenkte Neuanfänge, auch hier gibt es Notausstiege, gibt es die Stimme, die mich fragt: Warum bist du zornig? Warum senkst du deinen Blick? Wo ist dein Bruder?

Der Patriarch auf dem Weg in Erschöpfungsdepression und Impotenz (Abraham, Sara, Hagar: Gen 12/16/21, Predigtreihe "Männergeschichten")

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Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich will dich zu einem grossen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen gross machen, und du wirst ein Segen sein. Segnen will ich, die dich segnen, wer dich aber schmäht, den will ich verfluchen, und Segen sollen durch dich erlangen alle Sippen der Erde. Da ging Abram, wie der HERR es ihm gesagt hatte, und Lot ging mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Charan auszog. Und Abram nahm Sarai, seine Frau, und Lot, den Sohn seines Bruders, und all ihre Habe, die sie besassen, und die Leute, die sie in Charan erworben hatten, und sie zogen aus, um ins Land Kanaan zu gelangen, und sie kamen ins Land Kanaan. 

Ein Mann, zwei Frauen, Das ist die Überschrift über diesem Gottesdienst heute. Darum geht es in der Geschichte, die im Zentrum dieser Predigt stehen soll, eine Geschichte, die so lang ist und so viele Ecken und Kanten hat, dass wir sie aufteilen und immer wieder ein Stück lesen. Ein Mann, zwei Frauen. Das hat vielleicht auf den ersten Blick einen Schimmer von Seifenoper, Schürzenjägerei und wilder Romantik. Das klingt vielleicht so, als ob hier, in den Zelten, unter glutvoll brennender Sonne und taktvoll schimmerndem Mond, Männerfantasien wahr werden. Aber von Fantasien ist man weit entfernt, wenn man mit Sack und Pack quer durch den vorderen Orient zieht, durch die trockenen Landstriche im südlichen Irak und der östlichsten Türkei, hinunter nach Ägypten und wieder hinauf in die Westbank. Und was sich dort abspielt, zwischen Fluss-, Ehe- und Kindbetten, ist weniger schlüpfrig als schmerzhaft. 

Wie in jeder Fernsehserie haben wir vorhin die Rückblende gehört. Was bisher geschah. Es begann mit verheißungsvollen Mondnächten und Aufbruchstimmung, mit einem Auftrag und einem Versprechen: Geh – und ich begleite dich, ich segne dich, und du wirst ein Segen sein. Aber die Anfangseuphorie ist verflogen, und Abraham ist Träger einer Verheißung, die zwischendurch schwerer wiegt und schwerer zu tragen ist als alle Zeltstangen, alle Vorräte, alle Verantwortung zusammen. 

Vielleicht ist das gar nicht so weit weg von uns. „Aus dir wird einmal etwas ganz Großes“, Sätze wie dieser klingen viel versprechend, können aber zur Last werden. In einem jüdischen Witz unterhalten sich zwei Mütter am Sandkasten. „Wie alt sind denn ihre Kinder?“ fragt die eine. Die andere antwortet: „Der Anwalt ist vier, der Arzt wird nächste Woche zwei.“ Der Anwalt und der Arzt. Sollen Abitur machen, studieren, eine eigene Kanzlei oder eine eigene Praxis aufmachen. Wann ist der Mann ein Mann? Wenn er ein Haus gebaut hat. Einen Baum gepflanzt. Ein Kind gezeugt. Vaters Firma übernommen. Und so weiter. Männer, Frauen natürlich auch, scheitern immer wieder. An den Erwartungen, die Eltern, Arbeitgeber oder irgendeine diffuse Gesellschaft an sie richten. So auch Abraham, so sieht es zumindest aus. In der Geschichte von Abraham und seinen beiden Frauen zeigt sich Abraham von einer Seite, die wir nicht unbedingt mit unseren großen Vorbildern im Glauben in Verbindung bringen, die aber immer wieder bei Gottesmännern und Gottesfrauen vorkommt. Abraham auf dem Weg in die Erschöpfungsdepression, schwach, träge, passiv, ohnmächtig – die Lateiner unter uns ahnen, was kommt. Abraham wird impotent, weil einfach alles zu viel wird. 

In den Kapiteln, die wir heute überspringen, wiederholt Gott seine Verheißung noch zweimal – offensichtlich stand das zwischendurch immer wieder in Frage, zumindest für Abraham. Offensichtlich gab es mehr als einen Moment, an dem Abraham dachte: Ach, eigentlich war es doch ganz schön, er, mit Sara. Bevor Gott kam und alles durcheinander wirbelte. An dieser Stelle in der Bibel lernen wir beide noch mit ihren Spitznamen kennen: „Abram“, eine liebevolle Kurzform, und „Sarai“, „meine Sarah“. Irgendwo auf dem Weg der beiden gehen die Kosenamen verloren. Das kennen Sie vielleicht auch von zuhause. Abraham und Sara sind beide in einem Alter, in dem aus „Liebling“, „Schatz“ und „Mausezahn“ bei vielen Paaren schon „Mutti“ und „Vati“ geworden ist. Wenn Kinder da sind. Aber die fehlen. Mark Twain hat einmal gesagt: „Wer sich schon lange kennt, kriegt nicht mehr so schnell Nachwuchs.“ Und hier geht die Geschichte weiter. 

Und Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren; sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hiess Hagar. Und Sarai sprach zu Abram: Sieh, der HERR hat mich verschlossen, so dass ich nicht gebären kann. So geh zu meiner Magd, vielleicht bekomme ich durch sie einen Sohn. Und Abram hörte auf Sarai. Da nahm Sarai, Abrams Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, die Ägypterin Hagar, ihre Magd, und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau. Und er ging zu Hagar, und sie wurde schwanger. Und sie sah, dass sie schwanger war; da wurde ihre Herrin gering in ihren Augen. Sarai aber sprach zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich. Ich selbst habe meine Magd in deinen Schoss gelegt. Und kaum hat sie gesehen, dass sie schwanger ist, da bin ich gering in ihren Augen. Der HERR sei Richter zwischen mir und dir. Und Abram sprach zu Sarai: Sieh, deine Magd ist in deiner Hand. Mach mit ihr, was gut ist in deinen Augen. Da behandelte Sarai sie so hart, dass sie ihr entfloh. Der Bote des HERRN aber fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur. Und er sprach: Hagar, Magd Sarais, wo kommst du her, und wo gehst du hin? Und sie sagte: Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich auf der Flucht. Da sprach der Bote des HERRN zu ihr: Kehr zurück zu deiner Herrin und ertrage ihre Härte. 

Und Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren. Was hier in einem Satz zusammengefasst wird, sind Jahre vergeblichen Wartens. Jahre, in denen Sara ewig in sich hineinhorcht, ob sich da nicht doch etwas tut, Jahre, in denen sie abends den Kopf schüttelt, weil es wieder falscher Alarm war, Jahre, in denen sie es immer wieder versuchen, gegen alle Vernunft und irgendwann auch gegen alle Lust. Zwei Millionen Paare in Deutschland kennen das, es kommt, wie an Abraham und Sarah zu sehen, in den besten Familien vor. Für Abraham und Sarah steht nicht nur der Fortbestand ihrer Familie auf dem Spiel, sondern eben auch diese mal ermutigende, mal erdrückende Verheißung - und die Frage, wie vertrauenswürdig Gott denn eigentlich ist, wenn der Segen, der Kindersegen, ausbleibt? Und das macht die Geschichte für mich so tragfähig, weil sie realistisch ist. Den Menschen, die mit Gott unterwegs sind, die sich auf das Abenteuer des Glaubens einlassen, sogar denen, die alles stehen und liegen lassen, passiert genau dasselbe wie anderen Menschen auch. 

 Sara fragt nicht nach dem Warum, vielleicht auch nur nicht mehr. Siehe, der HERR hat mich verschlossen, sodass ich nicht gebären kann. So dachte man damals in der Antike, so denken bestimmt Menschen auch heute noch: Wenn es nicht klappt, wenn irgendetwas nicht klappt, ist es die Frau Schuld. Und dann nimmt sie die Dinge selbst in die Hand, und tut etwas, das für uns heute wahrscheinlich fremd ist, vielleicht sogar abstoßend, in der Antike aber Gang und Gäbe war: Da nahm Sarai, Abrams Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, die Ägypterin Hagar, ihre Magd, und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau. „Leihmutterschaft“ würden wir das heute nennen, denn der Plan ist ja, dass Sara das Kind als ihr eigenes bekommt. In Deutschland ist das verboten, in Finnland und den USA zum Beispiel nicht, in der Bibel wird das an keiner Stelle gewertet, sondern offensichtlich als bekannt und grundsätzlich akzeptabel vorausgesetzt. Trotzdem führt die Dreiecksgeschichte in Kanaan zu Verwicklungen und Verwerfungen. Und er ging zu Hagar, und sie wurde schwanger. Wieder bleibt die Zelttür vor unseren Augen verschlossen, wir können nur erahnen, wie schwierig das wahrscheinlich für alle drei gewesen ist. Für Hagar, die verschachert wird wie ein Besitz. Für Abraham, der herumgereicht wird wie ein Zuchthengst. Für Sara, die wahrscheinlich abends in ihrem Zelt liegt und nicht aufhören kann zu denken: Jetzt ist er bei ihr. 

Mit Hagars Schwangerschaft verändern sich die Verhältnisse in Abrahams Familie, die Sklavin bleibt zwar rechtlich Sklavin, aber sie wird eben auch diejenige, die Abraham das gibt, was seine Frau ihm nicht geben konnte. Das macht etwas mit allen Beteiligten, und die beiden Frauen geraten aneinander, und so kommt es in Abrahams Zelt zu einem handfesten Ehekrach – auch das kommt bekanntlich in den besten Familien vor. Und hier zeigt Abraham seine unschönen Seiten, kraftlos, desinteressiert, als ob ihn das alles nichts an- und es bei dem ganzen nur um einen Zickenkrieg geht. Mach doch, was du willst, mit diesen Worten winkt er ab, entzieht sich seiner Verantwortung. Was er sich Gott gegenüber nicht traut, nimmt er sich gegenüber Sara raus. Und Sara macht es ihm nach: Sie sucht nicht den offenen Konflikt mit Hagar, sondern behandelt sie extraschlecht, sodass sie am Ende die Flucht ergreift. Das ist bis heute eine gern genutzte Methode, um eine Beziehung abzubrechen, einen Mitarbeiter aus dem Betrieb zu bekommen und hinterher die Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: Ich hab ja gar nichts gemacht. Es menschelt also sehr im Hause Abraham, aber Gott sei Dank nicht nur. Auf der Flucht begegnet Hagar einem Engel, einem Boten Gottes, der für sie und ihr Kind sorgt, und auch sie bekommt eine Verheißung. Keine so glanzvolle wie Abraham und Sara, aber genug, um zu überleben und mit Würde und Kind wieder zurückzukehren. Und sie wird die erste sein, die Gott einen Namen gibt: El Roi, du bist der Gott, der mich sieht. Hagar gibt Gott einen Namen. Dieser Satz hat einen anderen Klang seit zwei Tagen, seit die Synode der lutherischen Kirche in Lettland beschlossen hat, die Frauenordination abzuschaffen. Wer Hagar in die Wüste folgt, weiß, dass Lettland eine falsche Entscheidung getroffen hat. Es menschelt, auch in der Kirche.

Aber nicht nur. Darum nochmal: Gott sei Dank. Wenn Menschen Gott spielen, und das tut Sara ja in dem Moment, als sie die Verheißung selbst in die Hand nimmt, dann geht das meistens auf Kosten anderer. Karl Popper hat mal gesagt: Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert immer die Hölle. Und Dietrich Bonhoeffer hat mal gesagt: Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Und so gibt es Hoffnung für Hagar, eine Zukunft für ihren Sohn Ismael – und eine erfüllte Verheißung für Sara und Abraham: Der HERR aber nahm sich Saras an, wie er gesagt hatte, und der HERR tat an Sara, wie er geredet hatte: 

Sara wurde schwanger und gebar Abraham in seinem Alter einen Sohn, zu der Zeit, die Gott angekündigt hatte. Und Abraham nannte seinen neugeborenen Sohn, den Sara ihm geboren hatte, Isaak. Und Abraham beschnitt seinen Sohn Isaak, als er acht Tage alt war, wie Gott es ihm geboten hatte. Und Abraham war hundert Jahre alt, als ihm sein Sohn Isaak geboren wurde. Da sprach Sara: Ein Lachen hat mir Gott bereitet. Jeder, der davon hört, wird meinetwegen lachen. Und sie sprach: Wer hätte je zu Abraham gesagt: Sara stillt Kinder. Und doch habe ich in seinem Alter einen Sohn geboren. Und das Kind wuchs heran und wurde entwöhnt. Und Abraham gab ein grosses Festmahl an dem Tag, da Isaak entwöhnt wurde. Sara aber sah, wie der Sohn der Ägypterin Hagar, den diese Abraham geboren hatte, spielte. Da sagte sie zu Abraham: Vertreibe diese Magd und ihren Sohn, denn der Sohn dieser Magd soll nicht zusammen mit meinem Sohn Isaak Erbe werden. Dieses Wort bekümmerte Abraham sehr, um seines Sohnes willen. Aber Gott sprach zu Abraham: Sei nicht bekümmert wegen des Knaben und wegen deiner Magd. In allem, was Sara dir sagt, höre auf sie. Denn nach Isaak sollen deine Nachkommen benannt werden. Doch auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Nachkomme ist. Am andern Morgen nahm Abraham Brot und einen Schlauch mit Wasser, gab es Hagar und legte es ihr auf die Schulter, übergab ihr das Kind und schickte sie fort. 

Liebe Gemeinde, es fällt schwer, jetzt Schluss zu machen mit der Predigt. Als letzten Satz zu hören: Er schickte sie fort. Abrahams beide Söhne, Isaak und Ismael, werden einander noch einmal begegnen, sie werden ihren Vater gemeinsam begraben. Auch das gibt es ja heute noch zuhauf, dass Verwandte, Geschwister, erst auf Beerdigungen wieder zusammentreffen. Sie werden beide viel erleben, von Ismael wissen wir nicht viel, von Isaak kennen wir die verstörende Geschichte, die gleich im nächsten Kapitel wartet, in der Abraham kurz davor ist, ihn zu opfern. Und vielleicht ist es dann doch ein guter Zeitpunkt für einen Schluss. Kein Punkt, aber ein Doppelpunkt. Ein Doppelpunkt, hinter dem Ihr Leben steht und meins. Wir versuchen auch, ein Leben mit Gott zu leben, Christus nachzufolgen, und wir erleben doch auch: Wir haben schwer zu tragen an den Erwartungen, die an uns gerichtet sind. Wir versuchen, Abkürzungen zu gehen und richten damit manches Mal Schaden an, wir stehen zwischen Menschen und schieben Entscheidungen hinaus. Und trotzdem. 

Ein Mann, zwei Frauen. Das ist, im Fall von Abraham, Sara und Hagar, nicht schlüpfrig, sondern schmerzhaft. Aber in alldem ist Gott dabei. Durch die ganze Geschichte hindurch klingt die Erkenntnis: Du bist ein Gott, der mich sieht. Abraham, Sara, Hagar, Isaak und Ismael. Und uns. Wenn ich aus dieser Männergeschichte, die ja, wie alle Geschichten in dieser Predigtreihe, nicht nur eine Männergeschichte ist, eins mitnehme, dann ist es das: Du bist ein Gott, der mich sieht. Damit lässt es sich leben. Amen. 

(Ein paar Gedanken stammen aus einer Predigt des Düsseldorfer Kollegen Uwe Vetter)
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